# taz.de -- Ausbeutung von Flüchtlingen in Italien: Wie Sklaverei heute funkti… | |
> Unser Autor Milo Rau arbeitet in Italien für einen Jesusfilm mit | |
> Geflüchteten zusammen und erprobt mit ihnen die politische Revolte. | |
Bild: Am Ende der Demo werden illegal gezogene Tomaten zertrampelt. | |
Momentan drehen wir im süditalienischen Matera einen Jesusfilm mit | |
Hunderten von Darstellern. Gleichzeitig veranstalten wir eine Politrevolte | |
gegen die Ausbeutung papierloser Arbeiter auf den süditalienischen | |
Tomatenplantagen. Viele Szenen des Evangeliums sind Abend- und Nachtszenen, | |
die Arbeit auf den Feldern beginnt um 5 Uhr früh. So kommt es, dass unsere | |
Darsteller nachts als biblische Charaktere auftreten, nach wenigen Stunden | |
Schlaf aber schon wieder eine Demo vorbereiten. | |
Das eigentlich Zermürbende des Projekts aber liegt woanders: im Charakter | |
der politischen Arbeit in den wilden Flüchtlingslagern. Die süditalienische | |
Agrarwirtschaft wird seit Generationen von der Mafia kontrolliert. Ein Heer | |
von geschätzt 500.000 illegalen Arbeitern ist den Caporali genannten | |
Vorarbeitern schutzlos ausgeliefert. Wer Probleme macht, wird nicht mehr | |
engagiert, und fehlen die lächerlichen 30 Euro für 12 Stunden Arbeit auf | |
den Feldern, ist man nach wenigen Tagen am Ende. Kapitalismus im | |
Ursprungsstadium: nur das individuelle Überleben zählt. | |
So habe ich gerade in der Europäischen Kulturhauptstadt Matera gelernt, wie | |
Sklaverei funktioniert: nicht durch Gewalt, sondern durch Isolation jedes | |
Einzelnen. Die völlige soziale und physische Auslöschung vor Augen, kämpft | |
der Mensch nur noch ums Überleben. Der Philosoph Giorgio Agamben – der vor | |
50 Jahren in Pasolinis Jesusfilm einen Apostel spielte – spricht vom „Homo | |
Sacer“: der rechtlose, auf die bare Existenz reduzierte Mensch. | |
## Die Gegenwart jener, die keine Zukunft haben | |
Festgehalten von den Dubliner Verträgen, überwacht von der Mafia, leben die | |
Menschen in den „Ghettos“ genannten Lagern in der absoluten Gegenwart | |
jener, die keine Zukunft haben. Der Unterschied zur antiken Sklaverei liegt | |
allein darin, dass die moderne Sklaverei offiziell nicht existiert. Über | |
die Jahre hat eine komplette Desolidarisierung stattgefunden, genährt von | |
strategisch gestreuten Gerüchten. Als wir zum Beispiel eine Demonstration | |
veranstalteten, um die Schließung eines Lagers durch die Armee zu | |
vermeiden, macht das Gerücht die Runde, das Lager sei wegen der | |
Demonstration geschlossen worden. | |
Unsere „Rivolta della Dignità“ ist so gewissermaßen das subproletarische | |
Gegenbild zum Aufstand der bürgerlichen Jugend in den Fridays for Future: | |
hier Euphorie, dort Paranoia, hier Spaß und Schulschwänzen, dort die | |
existenzielle Gefährdung durch einen einzigen Tag Arbeitsausfall. | |
Die Kategorien der politischen Arbeit geraten durcheinander unter dem | |
biopolitischen Diktat der Mafia: die NGOs zahlen Demonstranten Tagegelder, | |
ein einziges Demonstrationsfoto kann Existenzen beenden. Umso unglaublicher | |
ist für mich die Energie, mit der unser Jesus, der Aktivist Yvan Sagnet, | |
und seine Apostel den Kampf führen. | |
## Mach kaputt, was dich kaputt macht! | |
Immer wieder von neuem Solidarität zu schaffen in einem Klima der | |
Depression: Schon nach zwei Monaten Dreh frage ich mich, wie das | |
energetisch machbar ist. So ist es eine große Erleichterung, als wir | |
vergangenen Samstag endlich zum symbolischen „Einzug in Jerusalem“ in die | |
Europäische Kulturhauptstadt einmarschieren. Am Ende der Demo zertrampeln | |
Jesus und seine Apostel mit den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt eine | |
Wagenladung illegal produzierter Tomaten: Mach kaputt, was dich kaputt | |
macht! | |
Zugleich zeigen sich in Matera die Grenzen einer postmodernen Revolte. In | |
den letzten Wochen ist um unseren Jesus-Darsteller in Italien eine Art Kult | |
entstanden, alle großen Zeitungen haben ihn porträtiert. Der Einmarsch | |
endet in einem Selfie-Gewitter, von der New York Times bis zum | |
italienischen Staatsfernsehen sind alle Korrespondenten vor Ort. Und ab | |
nächster Woche entsteht in Matera ein gewaltiges Murales von Yvan Sagnet | |
mit Dornenkrone – der Künstler hat zuvor Che Guevara und Nelson Mandela | |
porträtiert. | |
Wie einst Lenin im Vorwort zu „Staat und Revolution“ schrieb: Eine | |
Revolution ist dann in Gefahr, wenn man ihren Führern Denkmäler baut. Doch | |
was auch immer geschehen mag, der erste schwarze Jesus ist in der Welt. | |
„Change is coming, whether you like it or not“, um Greta Thunberg zu | |
zitieren. | |
1 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Milo Rau | |
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