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# taz.de -- Theaterstück in Berlin über Europa: Wie eine Träne im Ozean
> Milo Raus „Empire“ feiert Premiere an der Berliner Schaubühne. Das
> Setting: eine syrisch-europäische Einraumwohnung.
Bild: Szene aus Milo Raus „Empire“
„Nichts ist vergangen.“ In einem Gespräch zum Abschluss seiner
Europatrilogie beruft sich der Schweizer Regisseur Milo Rau auf Anton
Tschechow. Auch in „Empire“, das am Donnerstagabend Premiere in Berlin
hatte, wagt sich Rau an einen komplexen Stoff. Das alte Europa, die Gewalt
in der Geschichte verknüpft er mit der im Syrien der Gegenwart. Und lässt
diese durch die Biografien seiner Schauspieler selbst erzählen und
verkörpern.
Rau konnte dafür prominente Akteure gewinnen: Die rumänische Schauspielerin
Maia Morgenstern etwa spielte in Mel Gibsons umstrittenem Film „Die Passion
Christi“ 2004 die Mutter Jesu. Heute leitet Morgenstern das Jüdische
Theater in Bukarest. Wo es um echte Tragödien aus Geschichte und Gegenwart
geht, darf ein echter Grieche nicht fehlen: Akillas Karazissis floh einst
vor der griechischen Junta ins Heidelberg der späten Sechziger und wurde
nach und nach ein klassischer Theatermann. Die beiden syrischen
Schauspieler Ramo Ali und Rami Khalaf komplettieren mit ihren Familien- und
Fluchtgeschichten den Abend. Sie sind es auch, die dem nüchternen
Sprechstück kaum zu ertragende Brisanz verleihen.
In „Empire“ erzählen diese vier Individuen als Schauspieler und Zeitzeugen
von ihren Erfahrungen und Prägungen. Die Bühne ist als syrisch-europäische
Einraumwohnung gestaltet. Die Schauspieler sprechen ihre biografischen
Textfragmente in den jeweiligen Originalsprachen. Sie werden auf der Bühne
am Küchentisch zumeist sitzend dabei gefilmt und synchron schwarz-weiß auf
die rückwärtige Leinwand projiziert. Zwischen Leinwand und Rückwand des
Empire-Raums deutlich lesbar die deutsche Untertitelung. Vielsprachigkeit,
Mischung neuer und alter Medien, fiktiver und dokumentarischer Mittel
zeichnen Raus Arbeit aus.
Die Schauspieler erzählen, was aus ihrem Leben für den heutigen Abend
wichtig erscheint.
## Blick des Odysseus
Vor dem Hintergrund einer Szene aus Theo Angelopoulos’ Film „Der Blick des
Odysseus“ spricht Morgenstern etwa über das Ceaușescu-Regime und
Antisemitismus in Rumänien. Die Filmszene zeigt eine demontierte
Leninfigur, wie sie auf einem Schiff die Donau hinunter abtransportiert
wird, unterlegt von den Filmmusikkompositionen Elenis, deren epische und
historische Weite sich Rau klanglich auch an anderen Stellen der
Inszenierung gekonnt zu eigen macht. Morgenstern erzählt von Besuchen in
Auschwitz, wo ihr Großvater ermordet wurde. Über das totalitäre
Sowjet-Rumänien, ihre Bühnen- und Bewusstwerdungskarriere, aber auch
relativ unangebunden über ihre Eheprobleme.
Hier zeigt sich, dass es riskant sein kann, Schauspieler dazu zu verleiten,
in erster Person über sich sprechen zu lassen. Morgenstern spielt sich in
eine Art (Opfer-)Konkurrenz zu Biografien, wie sie aktuell kaum dringlicher
die syrischen Schauspieler Ramo Ali und Rami Khalaf verkörpern. Beide
konnten sie flüchten. Und beide geben sie den Millionen Flüchtlingen auf
der Bühne ein Gesicht, vor denen sich viele hierzulande in völliger
Unkenntnis und bedauerlicher Fehlannahme so fürchten.
„Mich treibt die Frage um“, sagt Milo Rau, „was ist dieses dunkle Wissen,
das nichts Neues gebiert, sondern den Albtraum vergangener Verbrechen
entfaltet?“ Der Regisseur begab sich zusammen mit Ramo Ali zur Recherche in
den kurdisch kontrollierten Teil Syriens. Nach al-Qamischli, wo Ramo Ali
zwischen all den vielen neuen Gräbern das des Vaters nur schwer findet.
Eine Filmszene zeigt, wie sich Ali überwältigt von Trauer dort übergibt.
Er, der selber als kurdischer Schauspieler in die Fänge von Assads
Folterapparat geriet und nach Europa floh. Und jetzt für einmal mit Rau in
das zerstörte Qamischli heimlich zurückkehrte.
Rami Kalaf, der zweite syrische Darsteller, hält einen rumänischen Pass in
die Kamera. Als „Lupu Vasilis“ gelangte er mit gefälschten Papieren nach
Schweden. Heute lebt er in Frankreich. Staunen und Gelächter im Publikum.
Wie Riad Sattouf in seinem Comicroman „Der Araber von morgen“ hebt auch
Rami Kalaf die Gewaltförmigkeit der alten patriarchalen syrischen
Gesellschaft hervor. Väter, Offiziere, Lehrer, alle verprügelten sie die
Kinder. Die Ehefrauen als Gebärmaschinen. Nach Kalaf liegen hier
zuallererst die Gründe für die syrische Revolution. Und für Rau wohl auch.
Ob man die Bilder zu Tode gefolterter Assad-Gegner auf die Bühnenleinwand
projizieren darf? Vielleicht muss man sogar. Denn es ist keine ferne
griechische Tragödie, die sich in Syrien zuträgt, sondern eine, die ohne
Bilder kaum wahrgenommen würde. Schauspieler Akillas Karazissis lässt Rau
den Epilog dazu sprechen: „Oh dieses Menschenleben! Wenn es glücklich ist,
kann ein Schatten es verwandeln. Im Unglück wischt ein feuchter Schwamm
darüber, und die Schrift verlischt.“
13 Sep 2016
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Milo Rau
Theater
Flüchtlinge
Schaubühne Berlin
Kolumne Jesus versus Salvini
Marquis de Sade
Schaubühne Berlin
Tunesien
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Brexit
Regisseur
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