# taz.de -- Debatte Europa nach dem Brexit: Jetzt erst recht die Stimme erheben | |
> Mit Angst lässt sich nicht für Europa mobilisieren. Der Generalsekretär | |
> des Goethe-Instituts über Populisten und die Zäsur Brexit. | |
Bild: Junge Menschen sollten formulieren, wie ihr Europa der Zukunft aussehen s… | |
An einem seiner letzten Abende in Deutschland war Ben enttäuscht. Ein Jahr | |
lang hatte der Sohn englischer Freunde in München Jura studiert, war | |
Mitglied im Fußballverein, begegnete im Studentenwohnheim Menschen aus | |
aller Welt. „Dieses Jahr würde ich jederzeit wiederholen“, sagt Ben. Das | |
EU-Referendum in Großbritannien lag wenige Tage zurück. Weltoffen und | |
chancenorientiert hatte der 21-jährige Rugbyfan für „Remain“ gestimmt. | |
Gewonnen haben bekanntlich die anderen. | |
Es ist nicht zu leugnen, dass es in den Ländern der Europäischen Union | |
Kritik gibt am Umgang mit der heutigen politischen Lage. Wirtschaftskrise, | |
Jugendarbeitslosigkeit, die großen Bewegungen von Migration und Flucht. | |
All dies verunsichert und weckt Zweifel an der Fähigkeit der Politik, | |
wichtige Fragen der Zeit im Sinne der Bürgerinnen und Bürger Europas zu | |
bewältigen. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob die Antworten auf die | |
aktuellen Herausforderungen, die eng mit der Globalisierung und dem | |
Entstehen neuer Märkte und Machtzentren einhergehen, aus einer nationalen | |
Logik heraus gegeben werden können. Wahrscheinlich nicht. | |
Die Geschichte lehrt, dass miteinander konkurrierende Nationalstaaten sich | |
im Wesentlichen gegeneinander profilieren, anstatt Situationen zu suchen, | |
in denen sie gemeinsam etwas gewinnen. In den 70 Jahren vor der Gründung | |
der EU haben auf ihrem Territorium zahlreiche Kriege stattgefunden. In den | |
70 Jahren seit der Gründung der EU hat es hier keinen Krieg mehr gegeben. | |
Vielmehr wurde in Verhandlungen, komplexen Prozessen, mit | |
Austauschprogrammen und in kultureller Begegnung ein Klima der | |
Verständigung erreicht; Kompromisse wurden geschlossen. | |
## Nicht auf dem Erreichten ausruhen | |
Doch der Brexit und die populistischen und EU-feindlichen Bewegungen in | |
Europa zeigen, dass sich die europäische Politik nicht auf dem Erreichten | |
ausruhen kann. Die Erzählung vom Frieden und anderen Errungenschaften der | |
EU wie die Freizügigkeit oder die gemeinsame Währung reichen nicht mehr | |
aus, um die Bürger an das Projekt Europa zu binden. | |
Es scheint, als müsse jede Generation ihr Europa neu für sich erfinden. Der | |
Brexit nimmt die Politik und die Bürokratie in die Pflicht, Lösungen zu | |
finden für die drängenden Fragen der Zeit: Antworten auf wachsende | |
Ungleichheit, wahrgenommene Intransparenz, Konstruktionsfehler in den | |
institutionellen Strukturen der EU und Demokratiedefizite, nicht zuletzt | |
auf die Verlustängste der Bürger. | |
Was die Kampagne für den Ausstieg in Großbritannien so attraktiv gemacht | |
hat, war das starke, emotionale und für die Brexit-Anhänger positiv nach | |
vorn gerichtete Narrativ der Freiheit und der Rückgewinnung der politischen | |
Selbstbestimmung. Darum wurde heftig gerungen, notfalls auch mit | |
nachweisbaren Unwahrheiten. | |
Zwei Argumentationslinien standen im Mittelpunkt: die ökonomische, nach der | |
Großbritannien außerhalb der Europäischen Union wirtschaftlich besser | |
dastehen würde und vom Binnenmarkt profitieren könne, ohne die Lasten der | |
EU zu tragen. Und das Thema Migration, verbunden mit einer gefühlten Angst | |
vor Überfremdung. Dass gerade dieses Thema ein Spiel mit dem Feuer war, | |
zeigen die zunehmenden Übergriffe gegen Ausländer direkt nach dem | |
Referendum. | |
## Aus der Defensive | |
Die Brexit-Gegner verzichteten darauf, die Errungenschaften der | |
Europäischen Union, die Zusammengehörigkeit als Wertegemeinschaft, das | |
Friedensprojekt Europa in den Mittelpunkt zu rücken. Stattdessen ließen sie | |
sich auf einen Schlagabtausch zu den Themen Migration und Ökonomie ein, bei | |
dem sie die Ausstiegsfolgen mit schwärzesten Farben an die Wand malten. Sie | |
unterlagen, weil sie ex negativo und aus der Defensive heraus | |
argumentierten; über eine ähnlich starke und emotionale Erzählung für die | |
EU verfügten sie nicht. | |
Bereits 2013 hat José Manuel Barroso als Präsident der Europäischen | |
Kommission das Fehlen einer positiven Erzählung für Europa als Defizit | |
empfunden. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise berief er eine Gruppe von | |
Denkern und Kulturschaffenden ein, die ein neues europäisches Narrativ | |
erarbeiten sollten. Titel: „The Mind and Body of Europe“. | |
Ein seltsam lebloses Papier, das ohne weitere Folgen blieb, denn, so der | |
damalige Leiter des Goethe-Instituts Brüssel, Berthold Franke, 2014 in der | |
Zeit: „Sinn- und identifikationsstiftende ‚Erzählungen‘ werden nämlich | |
nicht einfach konstruiert, sondern ergeben sich aus historischer Erfahrung | |
… Um Menschen zu ergreifen, müssen Narrative eine positive Zukunft | |
beschreiben und spontan einleuchten. Sie werden gefunden und nicht | |
erfunden.“ | |
## Populistischen Bewegungen die Stirn bieten | |
Angesichts des Brexit und der Forderungen der populistischen und | |
europaskeptischen Bewegungen, die Angst vor dem Fremden schüren und | |
Abgrenzung propagieren, ist heute jeder persönlich gefordert. In vielen | |
europäischen Familien gibt es Flucht- und Kriegserfahrungen. Meine im | |
Sudetenland geborenen Großeltern, meine Mutter, meine aus Laos stammende | |
Frau – sie alle teilen ein Schicksal als Flüchtlinge, die gegen Widerstände | |
ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. | |
Meinen Kindern sieht man den sogenannten Migrationshintergrund an, und ich | |
möchte, dass ihnen das nicht zum Nachteil gereicht, sondern dass sie in | |
einem toleranten Europa mit einem höheren Maß an Chancengleichheit | |
aufwachsen. Auch deshalb gilt es, dem nationalen Alleinvertretungsanspruch | |
populistischer Bewegungen und Parteien die Stirn zu bieten und eigene | |
Ansprüche an ein weltoffenes und in die Zukunft gerichtetes Europa zu | |
formulieren. Wir lassen uns Europa nicht so einfach aus der Hand nehmen! | |
## Entwürfe für die Zukunft | |
Möglicherweise stellen der Austritt Großbritanniens und die damit | |
verbundenen Folgen, die wir noch nicht wirklich abschätzen können, die | |
historische Zäsur dar, die den Impuls für eine neue tragfähige Erzählung | |
der europäischen Einigung geben kann. Die dazu notwendige europaweite | |
Debatte darf kritische Fragen nicht ausklammern. Sie muss aber doch auf der | |
Grundlage einer gemeinsamen Verständigung über Werte, aus einer Reflexion | |
über die bisherigen Errungenschaften und in Abgrenzung von EU-feindlichen | |
Bewegungen der europäischen Einigung eine neue Vision vermitteln. Das kann | |
keine Arbeitsgruppe von Experten leisten, sondern hierzu ist ein Prozess | |
notwendig, an dem sich viele beteiligen und in dem der gemeinsame Weg des | |
Aushandelns und der Kooperation eine entscheidende Rolle spielt. | |
Kultur und Bildung können dabei eine wichtige Rolle spielen, weil sie | |
Freiräume des offenen und kritischen Austauschs jenseits der Tagespolitik | |
bieten, weil Theater, Literatur, Film oder Kunst ihre eigenen Wege | |
beschreiten, um Dinge sichtbar zu machen und kritische Fragen zu stellen, | |
um die Debatte weiterbringen zu können. | |
Schüler- und Jugendaustausch legen die Grundlage für echte Begegnung und | |
machen Europa erfahrbar. Die Arbeit in europäischen Netzwerken hilft dabei, | |
europäische Kooperation konkret einzuüben, und bewahrt davor, eine | |
einseitige nationale Sicht auf die aktuellen Entwicklungen einzunehmen. | |
## Eine Vision der jungen Menschen | |
Bei allen Aktivitäten im Bereich Kultur und Bildung kommt der jungen | |
Generation eine besondere Rolle zu. Den Analysen zufolge war die Mehrheit | |
der jungen Briten gegen den Brexit. Allerdings haben zu wenige von ihnen – | |
anders als Ben in seinem Münchner Auslandssemester – tatsächlich | |
abgestimmt. Wir müssen daher für eine gemeinsame Vision gerade junge | |
Menschen befragen, wie wichtig ihnen ein gemeinsames Europa inklusive | |
Frieden, Reisefreiheit und Auslandssemester ist und wie ihre Entwürfe für | |
Europas Zukunft aussehen. Nur so erreichen wir die breite Teilhabe derer, | |
die Europa in Zukunft gestalten sollen. | |
Eine der größten Herausforderungen ist es jedoch, das Augenmerk auf die | |
Bruchlinien der Gesellschaft zu richten: Wenn bei einem signifikanten | |
Anteil der Gesellschaft Vorbehalte gegen die europäische Einheit und | |
Solidarität bestehen, müssen wir uns fragen, mit welchen Themen, Angeboten | |
und Formaten wir diejenigen erreichen und ansprechen, die Europa und die | |
Werte, für die es steht, kritisch sehen und wie sie an einer neuen | |
Erzählung teilhaben können. | |
Die optimistische Hoffnung für Europa ist, dass die Politik, vom Brexit | |
erschüttert, tatsächlich eine „bessere EU“ schafft, wie das beispielsweise | |
Außenminister Frank-Walter Steinmeier in einer europaweiten Artikelserie | |
fordert. Ebenso wichtig ist es, dass viele Europäer, die zwar die | |
Errungenschaften eines gemeinsamen Europas hochhalten, dies aber passiv | |
tun, ihre Stimme erheben. Dass sie eine neue Erzählung formulieren, wie ihr | |
Europa der Zukunft aussehen soll jenseits von Populismus für mehr | |
Demokratie, Toleranz und soziale Ausgewogenheit. | |
25 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Johannes Ebert | |
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