Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Europäische Union: Ein vielbemühtes Monster
> Die EU wird gern als undemokratisches Regime dargestellt. Der Brexit
> zeigt, welche Folgen solche Denkbilder haben können.
Bild: Verkalkuliert: David Cameron geht, die EU bleibt
Bei einer Debatte über die EU kommt immer dann die Stunde der Wahrheit,
wenn die Diskutanten vom individuellen Thema – aktuell Brexit – zum
Deutungsrahmen kommen, vor dessen Hintergrund sie ein Ereignis einordnen.
Sahra Wagenknecht und Fabio de Masi schrieben kürzlich [1][in einem
Gastbeitrag für Zeit Online]: „Der Brexit war kein Votum gegen Europa,
sondern ein Votum gegen einen Brüsseler Club, der sich der Demokratie
entzieht.“
Das nennt sich „Framing“, also aktive Besetzung und Beeinflussung des
Deutungsrahmens. Wer den Brexit verstehen möchte, muss sich anschauen, was
es bedeutet, wenn sich fragwürdige Deutungsrahmen in einer Gesellschaft
durchsetzen.
Erstes Bild: Die EU und ihre „Eliten“ sind nicht Europa. Im zitierten
Zeit-Online-Artikel wird gar im Titel behauptet, die real existierende EU
zerstöre die „europäische Idee“. Im Vereinigten Königreich war dies wäh…
der Kampagne Standard: Boris Johnson hat ernsthaft argumentiert, ein echter
Europäer müsse gegen diese EU sein. Dahinter lauert der Gedanke: Wenn
nötig, müssen wir die falsche Juncker-EU erst mal eindampfen, um das echte
Europa im eigenen Sinne zu verwirklichen. Soll heißen: je nach Ideologie
sozialstaatlich (Wagenknechts Programm) oder eben als Paradies von
Freihandel und nationaler Souveränität (Johnson). In jedem Fall sollen
Volksentscheide „EU-Eliten“ entmachten.
Das Gegenbild dazu unterschreiben hoffentlich noch viele Europäer: Diese EU
und die Zähmung des Nationalismus sind eine einzigartige historische
Leistung parlamentarischer Demokratien. Weder Wagenknecht noch Johnson
haben eine zweite EU im Kofferraum. Und der positive Einfluss von
Volksentscheiden ist beim Wiederaufbau höchst ungewiss.
## Form und Inhalt verwechselt
Zweites Bild: Der Klassiker des Framings ist die EU als „bürokratischer
Moloch“. Was harmlos als Eurokratenbashing (jetzt vermiesen sie uns auch
noch das Staubsaugen!) daherkommt, hat im Vereinigten Königreich direkt zum
Bild der Herrschaft der nichtgewählten EU-Kommission geführt. Das
Gegenbild, nationale Minister und das Europäische Parlament als
demokratisch gewählte Gesetzgeber, war in der UK-Debatte bereits
irrelevant. Dies führt direkt zum dritten Rahmen: die EU als
„undemokratisches Monster“. Diese Annahme vereint nicht nur Nationalisten
in vielen Mitgliedstaaten, sondern eben auch viele Linke.
Die Unterstellung lautet: Die EU Gesetzgebung komme nicht demokratisch
zustande. Noch schlimmer, sie sei auch inhaltlich festgezurrt – nämlich
regulierungswütig in den Augen der britischen Marktideologen und neoliberal
in den Augen der Linken. Deshalb konnte beispielsweise Labour-Chef Jeremy
Corbyn die EU nicht aus vollem Herzen unterstützen, was erheblich zum
Brexit beigetragen hat. Das Problem: Wie die britischen EU-Hasser
verwechselten viele Linke Form und Inhalt der EU. Auf die Verfasstheit
einschlagen, aber die Migrations-, Austeritäts- und Deregulierungspolitik
meinen.
Warum aber sind die Briten raus, wenn nicht – wie Wagenknecht meint – aus
Ekel an der undemokratischen und ungerechten EU? Ein Deutungsrahmen: Weil
sie aus unterschiedlichen Gründen nicht mit den Inhalten nationaler Politik
wie Migration, Sozialabbau, Gesundheitspolitik einverstanden waren.
Übrigens wohl auch nicht mit Form und Akteuren – siehe Vertrauensverlust in
die britische Politik. Dabei dachte eine Mehrheit der Wähler, das Übel läge
auch in der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU, Stichwort
Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Noch abstrakter, wie Bernd Ulrich in der Zeit geschrieben hat, haben sie
wohl auch gegen das brachiale Hereinbrechen der Globalisierung gestimmt.
Dass insbesondere die britischen Regierungen in Brüssel die Osterweiterung
und die Arbeitnehmerfreizügigkeit und damit den vermeintlichen Willen
britischer Wähler durchgesetzt hatten, ist natürlich der Treppenwitz.
Deshalb geht der Vorwurf des Demokratiedefizits am entscheidenden Punkt
vorbei: Wer mit der Politik der EU nicht einverstanden ist, sollte nicht
als Reflex auf ihre Verfasstheit einprügeln, sondern nationale und
europäische politische Mehrheiten gewinnen. Das wäre beispielsweise eine
Aufgabe von Jeremy Corbyn und Sahra Wagenknecht.
Das vierte Bild geht weit über das Demokratiedefizit hinaus. Wagenknechts
„Brüsseler Club“ klingt verdächtig nach „Junta“. In diesem Sinne find…
sich eine interessante Übereinstimmung mit Stefan Reineckes Framing in der
taz vom 2. Juli 2016: Die Europäische Gesetzgebung käme ohne „Checks and
Balances“ zustande, und das EU Parlament sei so schwach und die Exekutive
so mächtig wie sonst „nur in autoritären Regimen“.
## Politik gewählter Regierungen
Die EU als „autoritäres Regime“? Auch dies hat sich im Vereinigten
Königreich bereits etabliert. Deshalb lachte dort auch niemand, als Ukip
den „independence day“ forderte. Auch Boris Johnson nannte die EU ein
Gefängnis. Ein Gefängnis? War nicht die EU in der Geschichte der erste
nicht durch Krieg erzwungene Zusammenschluss von Staaten, die freiwillig
Souveränität abgaben? Und: Ist normale EU-Gesetzgebung nicht sehr wohl
legitimiert durch den Kompromiss zwischen nationalen Regierungen und
Europäischem Parlament?
Selbst hinter der Eurogruppe, die wegen der Gläubiger-/Schuldner-Situation
höchst problematisch ist, steht nicht eine Diktatur, sondern da verfolgen
gewählte Regierungen ihre Wirtschafts- und Sparpolitik.
Das kann man freilich ablehnen. Gäbe es in der Eurogruppe eine stramme
linke Mehrheit, wäre diese Politik anders. Das gilt auch für TTIP, wo es
übrigens ohne Zustimmung des Europaparlaments kein Abkommen gibt. Und wer
hier nach den nationalen Parlamenten ruft, stellt leider auch das
Europäische Parlament infrage. Denn stimmt das Bild vom Nationalstaat als
Hort der wahren und echten Demokratie? Eher nicht. Aktuell fühlen sich
nicht nur Schotten, Katalanen, Flamen in den nationalen Parlamenten nicht
gehört. Und doch sprechen wir nicht von autoritären Regimen.
Drum sollte, wer von der EU spricht, in Zukunft seine Worte auf die
Goldwaage legen. Die britische Erfahrung zeigt: Die schrittweise Ausweitung
negativer Denkbilder vergiftet die Debatte. Der Weg zurück ist ungewiss.
17 Jul 2016
## LINKS
[1] http://www.zeit.de/politik/2016-06/brexit-eu-reform-kritik-sicherheit-ttip
## AUTOREN
Martin Unfried
## TAGS
Schwerpunkt Brexit
Europäische Union
Europa
Europa
Schwerpunkt Brexit
Schwerpunkt Brexit
Schwerpunkt Brexit
Briten
Schwerpunkt Brexit
Schwerpunkt Brexit
Schwerpunkt TTIP
Schwerpunkt Brexit
Schwerpunkt Brexit
Mafia
Schwerpunkt Brexit
Portugal
## ARTIKEL ZUM THEMA
Unter denen, die das Glück suchen: Europa to go
Die EU verspricht Wohlstand für alle. Aber kann sie das auch halten? Eine
Busfahrt von Stuttgart ins kroatische Hinterland.
Kommentar Junckers Rede: Die letzte Chance
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker äußert sich zur Lage der
Europäischen Union. Fünf Fragen, die er in der Rede unbedingt beantworten
muss.
Treffen von Renzi, Merkel und Hollande: Auf der Geburtsinsel Europas
Renzi, Merkel und Hollande sprechen am Montag über die Zukunft der EU – auf
Ventotene, wo Europa schon einmal neu begründet wurde.
Debatte Europa nach dem Brexit: Jetzt erst recht die Stimme erheben
Mit Angst lässt sich nicht für Europa mobilisieren. Der Generalsekretär des
Goethe-Instituts über Populisten und die Zäsur Brexit.
Exil-Briten nach dem Brexit: „Wir machen uns Sorgen“
Die britische Expat-Community in Spanien ist verunsichert. Man fürchtet
soziale Einschränkungen und die Abwertung des Pfundes.
Debatte Europa und die EU: Die Schlafwandler halten Kurs
Politkitsch als Narrativ der Jugendhoffnung, liegengelassene Reformen,
Länder ohne Perspektive: „Europa“ zerlegt sich selbst.
EU-Ratspräsidentschaft 2017: Großbritannien verzichtet
Die britische Regierung werde im nächsten Jahr sehr mit den
Austrittsverhandlungen beschäftigt sein. Einspringen wird wahrscheinlich
Belgien.
Nach letzter Verhandlungsrunde: Rasch über TTIP entscheiden
SPD-Chef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel fordert eine kritische
Bilanz des EU-Abkommens mit den USA – er will wohl nicht mehr lange
fackeln.
Großbritannien bereitet Brexit vor: Keine Garantie für Bleiberecht
Die Zuwanderung soll eingeschränkt werden. Der zuständige Minister hofft
auf einen Vertrag mit der EU. Neue Handelsabkommen werden vorbereitet.
Entgleisungen des Boris Johnson: Bruder Leichtfuß auf Weltreise
Mr. Brexit als neuer Chefdiplomat Großbritanniens? Auf seinen Reisen um die
Welt ließ Boris Johnson bisher kein Fettnäpfchen aus.
Kolumne Mittelalter: Die Mafia-Faschismus-Connection
Was wird aus Europa? In Berlin erzählte ein italienischer Historiker, was
mal fast daraus geworden wäre und welche Rolle „Säbelrasseln“ haben kann.
Kommentar Theresa Mays Regierung: Neuanfang mit hohem Anspruch
Theresa Mays Kabinett ist eine Brexit-Regierung – eine, die nicht mit sich
spaßen lassen wird. Dennoch verdient der Start Anerkennung.
EU-Strafen für Defizitsünder: Ist bald Frankreich dran?
Die EU verhängt „historische“ Strafen gegen Portugal und Spanien.
Finanzminister Schäuble will die Entscheidung zum Präzedenzfall für
Frankreich machen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.