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# taz.de -- Treffen von Renzi, Merkel und Hollande: Auf der Geburtsinsel Europas
> Renzi, Merkel und Hollande sprechen am Montag über die Zukunft der EU –
> auf Ventotene, wo Europa schon einmal neu begründet wurde.
Bild: Schöne, aber trügerische Kulisse: Mussolini internierte auf der Insel V…
Rom taz | Hier also soll Europa seinen Neustart hinlegen: Auf Ventotene,
einem kleinen, einigermaßen unwirtlichen Eiland vor Italiens Küste südlich
von Rom. Steil zum Meer abfallende Felsen, eine karge Vegetation, reichlich
Wind und viel Gicht bietet die Insel, auf die Italiens Ministerpräsident
Matteo Renzi für den 22. August Frankreichs Präsidenten François Hollande
und Kanzlerin Angela Merkel gebeten hat. Dort wollen sie nach dem Brexit
über die Zukunft des Kontinents verhandeln.
Dass die Wahl für den Gipfel auf die Insel statt auf Rom, Mailand oder auch
das mondäne Capri fiel, mag bizarr erscheinen und ist doch absolut
zwingend. Denn schon einmal, zum denkbar unwahrscheinlichsten Zeitpunkt,
unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen, wurde hier Europa neu
gegründet, im Jahr 1941.
Hitler stand im Zenit seiner Macht, nach dem Überfall auf Polen 1939 hatte
er 1940 Frankreich erobert, im Juni 1941 die Attacke auf die Sowjetunion
gestartet, um sein eigenes europäisches Einigungswerk im Zeichen des
Hakenkreuzes – inklusive Vernichtung der Juden und Unterwerfung der
„minderwertigen“ Slawen – zu vollbringen.
Als Spinner wären seinerzeit wohl jene drei Männer und jene Frau
durchgegangen, die ausgerechnet 1941 über ein ganz anderes Europa
nachdachten, eines ohne Hitler und seinen treuen Alliierten Benito
Mussolini, eines, das föderalistisch verfasst sein sollte, um ein für alle
Mal den Nationalstaaten – und damit den fürchterlichen Kriegen – ein Ende
zu setzen. Und ein wenig aus der Welt lebten sie ja auch, allerdings nicht
aus freien Stücken. Das Mussolini-Regime hatte sie, allesamt unbeugsame
Opponenten des Faschismus, nach Ventotene verbannt.
## „Es ist verboten, über Politik zu sprechen“
Ernesto Rossi, einer der rührigsten Aktivisten von „Giustizia e Libertà“,
einer liberalsozialistischen Widerstandsgruppe, hatte schon neun Jahre in
den faschistischen Gefängnissen verbracht, ehe er nach Ventotene geschickt
wurde. Im Alter von nur 21 Jahren hatte der Römer Altiero Spinelli, im Jahr
1928, eine neunjährige Haft angetreten, weil er in der kommunistischen
Jugend aktiv war. Auch er wurde nach Verbüßen der Strafe ins „Confino“, in
die Verbannung geschickt. Dort trafen die beiden auf Eugenio Colorni, auch
er ein liberalsozialistischer Gegner des Faschismus. Und auf dessen Frau
Ursula Hirschmann, eine Berliner Jüdin, die 1933 mit ihrem Bruder – dem
späteren Ökonomie-Nobelpreisträger Albert O. Hirschman – nach Paris
geflohen und nach ihrer Heirat mit Colorni 1935 nach Triest gezogen war.
Bloß „in die Ferien“ habe Mussolini seine Gegner geschickt, sollte Silvio
Berlusconi gut 60 Jahre später behaupten. Ganz so war es nicht.
In Fesseln gelegt brachten die Verbannten die Überfahrt auf dem Postboot
hinter sich, und kaum waren sie angekommen, bekamen sie das „Kleine rote
Buch“ ausgehändigt, das mit der Mao-Bibel nur den Namen gemein hatte: Statt
Tipps für die Revolution enthielt es eine lange Liste von Verboten, damit
die Revolution unterblieb. „Man darf ohne Genehmigung keine Kirche
betreten, man darf nur auf gestempeltem Papier schreiben, es ist verboten,
über Politik zu sprechen. Der Besitz von Taschenlampen ist verboten. Der
Besitz von Spielkarten ist verboten“ – endlos war die Liste der untersagten
Dinge.
Von Ferien konnte hier keine Rede sein. Auf die etwa 1.000 Inseleinwohner
kamen 800 Verbannte, und auf die passten wiederum 350 Polizisten und
Carabinieri auf. Die Gefangenen schliefen in Baracken, ihre schmalen
Essensrationen nahmen sie in Mensen ein, die streng nach politischer
Zugehörigkeit getrennt waren. Acht Mensen betrieben die Kommunisten, die
größte und bestorganisierte Gruppe, dann gab es noch die Speisesäle der
Anarchisten, der Sozialisten – und die der europäischen Föderalisten.
„Sofort eine Arbeit suchen“ sollten sich die Verbannten: Auch dies schrieb
ihnen das „Rote Buch“ vor.
Das war blanker Hohn, Arbeit gab es keine auf der Insel. Einige machten
sich an die Hühnerzucht, andere stellten Kaninchenfallen auf, Spinelli
eröffnete einen kleinen Laden für Reparaturen. Doch die meiste Zeit
verbrachten die Antifaschisten mit langen Spaziergängen, streng nach
Vorschrift, höchstens zu zweit.
Eigentlich hätten Spinelli, Colorni, Rossi, Hirschmann dabei nur übers
Wetter reden dürfen – doch die Realität sah anders aus. „Stell dir die We…
in einem Wassertropfen vor, eine Welt auf einem Fels und alle Parteien auf
diesem Fels, mit der Möglichkeit, einander täglich zu sehen und einander
vierzigmal täglich zu begegnen“ – so beschrieb Ernesto Rossis Frau Ada die
Situation auf Ventotene.
Misstrauisch beäugt von den Kommunisten, belächelt von den Anarchisten,
sprachen die „Föderalisten“ auf ihren Spaziergängen über Europa, über d…
Gesicht, das der Kontinent nach der ihnen als sicher geltenden Niederlage
von Faschismus und Nationalsozialismus haben sollte. Und sie schrieben ihre
Gedanken nieder, in dem „Manifest für ein freies und geeintes Europa“. Als
Autoren werden gemeinhin Rossi und Spinelli genannt, doch auch Ursula
Hirschmann und Eugenio Colorni hatten kräftigen Anteil an dem Werk.
Ein „dritter Weg“ wird in dem Manifest theoretisiert, zwischen den in
souveränen Nationalstaaten organisierten kapitalistischen Gesellschaften
und dem Kommunismus. Das nationale Machtstreben habe im Faschismus bloß
seine radikale Zuspitzung erlebt – aber auch von kommunistischen Staaten
sei kein Ende der internationalen Konflikte zu erwarten, da auch in ihnen
das jeweilige nationale Interesse dominieren werde.
## Die europäische Idee auf Zigarettenpapier
Nur einen Ausweg für die neue europäische Nachkriegsordnung sehen die
Autoren: die Überwindung der Nationalstaaten in einer europäischen
Föderation, mit der allein sich „die gegenwärtige internationale Anarchie“
überwinden lasse: in einem Bundesstaat, der allein Armee und Polizei
aufstellt, der alle Handelsbarrieren beseitigt, der eine
Gemeinschaftswährung einführt und den Bürgern volle Bewegungsfreiheit
zusichert. Das ist nicht bloß Euro, Schengen, gemeinsamer Markt, das ist
vor allem eine europäisch verfasste Demokratie – nur mit den „Vereinigten
Staaten Europas“ sei die „Eliminierung des imperialistischen Militarismus“
zu erreichen.
Doch vorerst standen die auf 70 Seiten niedergelegten Gedanken bloß auf
Papier, genauer: auf kleinen Zigarettenpapierfetzen, auf denen die
Föderalisten von Ventotene in Miniaturschrift ihr Manifest niederlegten.
Eine von ihnen, Barbara Hirschmann, konnte sich frei bewegen, konnte – da
sie keine Gefangene war – immer wieder aufs Festland übersetzen. Zwar wurde
sie vor jeder Reise gründlich durchsucht, doch ein paar Geldscheine an die
Frau, die mit der Leibesvisitation betraut war, lösten das Problem. Schon
vom Sommer 1941 zirkulierten die ersten Exemplare das Manifests unter den
Aktivisten der italienischen Resistenza.
Als dann im Juli 1943 Mussolini stürzte, als die Verbannten in Freiheit
kamen, beriefen sie umgehend ein Treffen in Mailand ein, auf dem sie mit
Gleichgesinnten die „Föderalistische Bewegung Europas“ aus der Taufe hoben.
Doch als im September 1943 deutsche Truppen Nord- und Mittelitalien
besetzten, stand erst einmal die Befreiung von der Naziherrschaft an.
Spinelli zog sich zunächst in die Schweiz zurück – begleitet von Barbara
Hirschmann, die sich von ihrem Mann Eugenio Colorni getrennt hatte und nun
mit Spinelli zusammenlebte.
## Spinelli beerdigt auf Ventotene
Doch der engen Zusammenarbeit zwischen Colorni und Spinelli taten die
privaten Verwicklungen keinen Abbruch: Es war Colorni, der 1944 im von den
Nazis besetzten Rom als Herausgeber des Manifestes und Autor des Vorworts
fungierte; nur wenige Tage später fiel er einem faschistischen Greiftrupp
zum Opfer; als er zu entkommen suchte, wurde er erschossen.
Altiero Spinelli und Barbara Hirschmann setzten das gemeinsam begonnene
Werk fort. Im März 1945 beriefen sie in Paris den ersten internationalen
Kongress der Europäischen Föderalisten ein, an dem auch Albert Camus und
George Orwell teilnahmen. Für Spinelli sollte die Einigung Europas zur
Lebensaufgabe werden. 1970 wurde er Mitglied der Europäischen Kommission,
1976 stellte die Kommunistische Partei Italiens – die den
antistalinistischen Abweichler Jahrzehnte vorher ausgeschlossen hatte – ihn
als unabhängigen Kandidaten fürs Abgeordnetenhaus auf und entsandte ihn ins
Europäische Parlament. Bis zu seinem Tod 1986 kämpfte er dort für eine
europäische Verfassung. Wie er es gewünscht hatte, wurde er auf der kleinen
Insel beerdigt, auf der er sein Werk für die Einigung Europas begonnen
hatte.
22 Aug 2016
## AUTOREN
Michael Braun
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