# taz.de -- Krisen-Manifest von der Spinelli-Gruppe: Die letzten Europäer | |
> Die Spinelli-Gruppe fordert mehr Integration im europäischen | |
> Wirtschaftsraum. Doch gegen ihre Parteikollegen in den Nationalstaaten | |
> haben die Europäer es schwer. | |
Bild: Europa kommt an seine Grenzen (abgebildet: Obelisk in Coruña bei Santiag… | |
BRÜSSEL taz | Es war einer dieser Tage in Straßburg, an denen eine | |
Pressekonferenz die andere jagt und die Journalisten nicht mehr wissen, wo | |
ihnen der Kopf steht. Einer dieser Tage, an denen viel geredet und noch | |
mehr geschrieben wird, aber wenig hängen bleibt. Doch die Pressekonferenz | |
von Guy Verhofstadt war anders. Wenige Minuten bevor Kommissionspräsident | |
José Manuel Barroso eine Rede zur Schuldenkrise halten wollte, ergriff der | |
Chef der Liberalen im Europaparlament das Wort - und stahl ihm die Schau. | |
Verhofstadt sprach nämlich aus, was Barroso nicht zu sagen wagte: dass es | |
mit der Hilfe für Griechenland so nicht weitergehe, dass die bisherige | |
Strategie gescheitert sei und Brüssel umdenken müsse. Nicht weniger, | |
sondern mehr Europa sei die richtige Antwort auf die Krise. "Wir müssen | |
zusammenrücken und unsere Wirtschaftspolitik besser abstimmen." Mit dieser | |
Meinung stehe er nicht allein, so Verhofstadt: Auch der Internationale | |
Währungsfonds fordere mehr Integration – genau wie die Spinelli-Gruppe. | |
Die Spinelli-Gruppe? Das klingt nach einem italienischen Geheimbund, nach | |
konspirativen Treffen bei Chianti und Candlelight. Tatsächlich war es eine | |
verschworene Runde, die sich in den 80er Jahren rund um den italienischen | |
Europaabgeordneten Altiero Spinelli in Straßburg traf. Im Restaurant "Le | |
Crocodile" heckten Spinelli und seine Freunde visionäre Pläne für ein | |
föderales Europa aus. Nach Spinellis Tod 1986 geriet der "Krokodilsclub" in | |
Vergessenheit. Doch jetzt, da die EU am Abgrund steht, ist er mit neuem | |
Namen wieder da. | |
Verhofstadt hat die Spinelli-Gruppe gemeinsam mit anderen überzeugten | |
Europäern wie dem Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, dem früheren | |
deutschen Außenminister Joschka Fischer oder Ex-Kommissionschef Jacques | |
Delors ins Leben gerufen. Bei ihrer Gründung im Herbst 2010 fand sie kaum | |
Beachtung. Ausgerechnet die Schuldenkrise verleiht ihr neuen Auftrieb. Denn | |
[1][die Spinelli-Leute] fühlen sich durch das Scheitern der bisherigen | |
EU-Strategie bestätigt. Die griechische Tragödie ist für sie ein Weckruf | |
für ein neues, föderales und postnationales Europa. | |
## Europa "von unten" | |
"Wir brauchen einen Quantensprung", fordert die grüne Europaabgeordnete | |
Franziska Brantner, die sich an der Seite von "Dany le vert" bei Spinelli | |
engagiert. "Schon seit der Finanzkrise habe ich das Gefühl, dass sich die | |
EU neu erfinden muss." Noch drastischere Worte findet Elmar Brok, einer der | |
wenigen CDU-Politiker bei Spinelli: "Die Krise ist nur mit dem | |
Amerikanischen Bürgerkrieg zu vergleichen", sagt er. Auch die USA seien vor | |
dem Civil War kein starker Staat gewesen. Nun müsse die EU beweisen, dass | |
sie die Kraft und den Willen hat, um zu überleben. "Das ist der Härtetest", | |
so Brok. | |
Wie dieser Test zu bestehen ist, darüber sind sich die 34 ständigen | |
Mitglieder und rund 2800 Anhänger ("Networker") der Spinelli-Gruppe nicht | |
immer einig. Zwar berufen sie sich auf Montesquieu: "Wenn etwas für mein | |
Vaterland nützlich wäre, gleichzeitig aber Europa schadet, so würde ich es | |
als ein Verbrechen betrachten." Mit ihrem Idol Spinelli teilen sie die | |
Überzeugung, dass Europa nicht mehr in kleinen Schritten voranschreiten | |
kann. Statt wie bisher von den Regierungen - also "von oben" – müsse die EU | |
durch die Bürger und das Europaparlament "von unten" angetrieben werden und | |
den großen Sprung nach vorn wagen - zu den Vereinigten Staaten von Europa. | |
Das Ziel ist also klar. Doch der Weg dahin ist genauso unklar wie zu | |
Spinellis Zeiten: [2][Das Manifest] der Gruppe gibt nur eine grobe Linie | |
vor; ein Handbuch für Revolutionäre und Staatengründer ist es nicht. | |
Angesichts von Globalisierung, Klimawandel und Eurokrise sei die derzeit zu | |
beobachtende Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Nationalstaaten ein | |
"Anschlag auf den europäischen Geist", der die "politische Impotenz" | |
Europas steigere, heißt es da. Jetzt sei nicht der Moment, die europäische | |
Integration zu verlangsamen, sondern sie im Gegenteil noch zu | |
beschleunigen. | |
## Herkulesaufgabe Europa | |
Praktische Ratschläge bleibt die Spinelli-Gruppe jedoch schuldig. Wenn es | |
um die Tagespolitik geht, prescht meist Verhofstadt vor – so wie auf der | |
Pressekonferenz in Straßburg. Damals, im Juni, legte er sogar eine eigene | |
Strategie gegen die Krise in Griechenland vor, den Herkulesplan. Doch vor | |
der Herkulesaufgabe, ganz Europa zu retten, scheuen sogar die letzten | |
überzeugten Europäer zurück. Selbst Verhofstadts liberale Fraktion im | |
EU-Parlament ist sich nicht einig. | |
"Ich stehe Verhofstadt grundsätzlich sehr nahe, aber in einigen Fragen gibt | |
es doch Differenzen", sagt der FDP-Europaabgeordnete Alexander Alvaro, der | |
bei Spinelli mitarbeitet. So hält Alvaro nicht viel von den Eurobonds, die | |
sein Fraktionschef im EU-Parlament als Allheilmittel gegen die Krise | |
preist. Auch die Begeisterung des Belgiers Verhofstadt für eine starke | |
europäische Wirtschaftsregierung teilt der deutsche Liberale nicht. Das sei | |
jedoch ganz normal, so Alvaro. Schließlich ist man es im Europaparlament | |
gewöhnt, unterschiedliche Auffassungen aus den 27 EU-Staaten unter einen | |
Hut zu bringen. Bei ihren Treffen in Straßburg finden die Spinelli-Leute | |
denn auch meist einen gemeinsamen Nenner; im Oktober wollen sie sogar einen | |
Gegengipfel zum Treffen der Staats- und Regierungschefs organisieren. | |
Viel problematischer gestaltet sich die Arbeit der Föderalisten in den | |
nationalen Hauptstädten, auch in Berlin. Denn dort hört man auf "Volkes | |
Stimme", klagt Alvaro, und die hat zunehmend "Angst vor Europa". Selbst in | |
seiner eigenen Partei fühlt er sich nicht immer verstanden. Denn auch in | |
der FDP ist die traditionelle Europabegeisterung verflogen. "Derzeit gibt | |
es zwei Strömungen", so Alvaro: "Eine ist für die weitere Vertiefung der | |
EU, die andere für die Beibehaltung des Status quo." Einig sei man sich nur | |
darüber, dass man uneins ist. Parteichef Philipp Rösler sei europapolitisch | |
zwar offen. "Doch ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, wo er genau | |
steht." | |
## Brok (CDU) kann bei Merkel kaum eine klare Linie sehen | |
Ähnliches lässt sich wohl auch über die CDU-Vorsitzende Merkel sagen. Elmar | |
Brok jedenfalls, der die Europapolitik schon bei Helmut Kohl gelernt hat, | |
hat Mühe, bei Merkel eine klare Linie zu erkennen. "Viele der heute | |
Handelnden wissen nicht mehr, was Europa bedeutet", klagt er, "und das gilt | |
selbst in höchsten deutschen Kreisen". In Berlin werde nicht genug erklärt, | |
wofür Europa gut ist. "Das ist der entscheidende Fehler, bis in die | |
politische Spitze." Wenn die Bundesregierung Kosten und Nutzen der EU | |
offenlegen würde, davon ist Brok überzeugt, wäre die Euroskepsis bald | |
erledigt: "Dann hört auch das Gerede vom Zahlmeister Deutschland endlich | |
auf." | |
Sehr hoffnungsvoll klingt das nicht. Selbst die Grüne Franziska Brandtner | |
gibt sich eher skeptisch, was die Erfolgschancen in Deutschland betrifft. | |
Bei ihnen gebe es zwar keine Probleme, weil ohnehin alle für mehr Europa | |
seien. Allerdings engagierten sich zu wenig junge Menschen für die | |
europäische Einigung, auch bei Spinelli seien nur die "üblichen | |
Verdächtigen" dabei. | |
Verhofstadt kennt diese Sorgen, sieht auch die Probleme in Deutschland. | |
"Seit der Wiedervereinigung gibt es Zweifel am europäischen Bekenntnis | |
Deutschlands", sagte er in einem Interview mit dem Schweizer | |
Tages-Anzeiger. Es sei "gefährlich, wenn Deutschland ignoriert, dass seine | |
Interessen in einem vereinigten Europa liegen, und sich nationalen | |
Interessen hingibt." Dennoch ist er optimistischer als seine deutschen | |
Mitstreiter. Denn zum einen glaubt er fest daran, dass am Ende auch in | |
Berlin die Einsicht siegt. Zum anderen sieht er eine Dialektik der Krise am | |
Werk, die Europa auch gegen den Willen der Regierungen voranbringe. | |
## Die Krise als Chance | |
"Die Krise zwingt doch die Staaten, das zu tun, was sie bisher nicht | |
wollten. Sie müssen Kompetenzen abgeben und mehr Integration zulassen", | |
sagte er. So gebe es heute eine europäische Finanzaufsicht und einen | |
Rettungsfonds von 750 Milliarden Euro. Vor zehn Jahren hätte dies niemand | |
gedacht, freut sich Verhofstadt. In sechs Monaten müsse die EU-Kommission | |
zudem einen Vorschlag für die Eurobonds vorlegen. "Und dann sind wir dabei, | |
radikal den Rahmen des EU-Budgets zu ändern, sodass davon mehr | |
Wachstumsimpulse ausgehen. Behaupten Sie immer noch, es geschehe nichts?" | |
Nein, das behauptet niemand mehr, schon gar nicht in Brüssel. Schließlich | |
überschlagen sich hier die Ereignisse. Die Sonder- und Krisengipfel häufen | |
sich, und jedes Mal werden neue, noch vor Kurzem für unmöglich gehaltene | |
Reformen beschlossen. Die große Frage ist allerdings, ob die Reformen den | |
Bürgern nützen und die Demokratie stärken, wie dies die Spinelli-Leute | |
hoffen. Oder ob sie die EU letztlich in einen unkontrollierbaren Moloch | |
verwandeln, wie Kritiker der Eurorettung schon jetzt klagen. | |
Spinelli machte sich keine Illusionen: Es kann auch schiefgehen, schrieb er | |
schon 1941 in seinem Manifest von Ventotene, auf das sich die Föderalisten | |
noch heute berufen. "Zur Sicherung des gemeinsamen Interesses muss ein | |
geeigneter Apparat vorhanden sein … Wenn dieser Apparat fehlt (…) dann | |
müssen (…) die Dinge offenbar unausweichlich einen Lauf nehmen, bei dem | |
jeder für seine eigenen Interessen sorgt, unbekümmert um den Schaden, den | |
er anderen zufügt; hieraus entstehen dann Reibungen und Spannungen, die | |
schließlich nicht mehr anders zu lösen sind als durch Gewalt." | |
5 Aug 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.spinelligroup.eu/who-we-are/ | |
[2] http://www.spinelligroup.eu/manifesto/ | |
## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Brexit | |
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