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# taz.de -- „Hedis Hochzeit“ im Kino: Der Fluch der Familie
> Mohamed Ben Attia ist ein ausgezeichneter Film über eine in Konventionen
> verfangene tunesische Gesellschaft nach der Jasmin-Revolution gelungen.
Bild: Der stille und sensible Hedi (Majd Mastoura) trifft auf die Hedonistin Ri…
Mit der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi nahm der
Arabische Frühling im Dezember 2010 von Tunesien aus seinen Anfang. Am 14.
Januar 2011 vertrieben die Tunesier den langjährigen Diktator Ben Ali. Das
kleine nordafrikanische Land ist seither der einzige von der Arabellion
erfasste Staat, der die alten nicht gegen neue Ketten eintauschte. Und der
nicht im blutigen Bürgerkrieg erstickte. Islamisten sind zwar auch hier
aktiv, die Gesellschaft ringt aber mehrheitlich um einen demokratischen
Übergang.
Das alte Regime verschwand, doch gesellschaftliche Zwänge blieben.
Regisseur Mohamed Ben Attia schildert dies an seiner Figur des jungen Hedi
(Majd Mastoura). Hedi erduldet zu Hause das Regime einer quasi weiblichen
Ben Ali. Vordergründig sanft und selbstlos, bestimmt die in erster Linie
egoistisch zu nennende Mutter über alles im Leben ihres Hedi. Ob Job oder
Ehe, der introvertierte und sensible Junge soll fest in das
nachbarschaftlich-familiäre Netzwerk verstrickt werden.
Was ihm – und vor allem ihr – Aufstieg, Status und Wohlstand sichern soll.
Ein typisch konservativer tunesischer Mittelstandsentwurf. Auf das Häuschen
gehört noch eine Etage drauf. Freiheit oder Selbstverwirklichung der Jugend
zählt dagegen nichts. Die Kasse muss stimmen. Dabei zeichnet der stille
Hedi für sich am liebsten Comicstrips. Und auch ohne Wirtschaftskrise wäre
er ein miserabler Autoverkäufer. Doch kurz vor seiner arrangierten Hochzeit
schickt ihn der Chef der Peugeot-Niederlassung von Kairouan auf
Vertretertour nach Mahdia.
Wo der Kunde nicht ins Autogeschäft kommt, kommt der Verkäufer zu ihm.
Keine schlechte Idee, die da Regisseur Ben Attia hat, um so seiner
Filmerzählung eine überraschende und befreiende Wendung zu geben. Denn Hedi
tauscht die Tristesse staubiger Werkstättenparkplätze, das sinnlose
Klinkenputzen bei Auftraggebern ohne Geschmack und Geld gegen den
Badeurlaub in einer Hotel- und Ferienanlage ein. Der blasse, eher
unscheinbar und linkisch wirkende Mann legt das Mobiltelefon zur Seite und
schwimmt im türkisfarbenen Mittelmeer.
## Die Hedonistin Rim tanzt Salsa
Und das dann bald auch nicht mehr alleine. Er lernt die Hedonistin Rim (Rym
Ben Messaoud) kennen, die die wenigen nach der Revolution übrig gebliebenen
(deutschen) Pauschaltouristen in der Ferienanlage unterhält. Nachts: Salsa,
Animationstanz, Tropicalia vor gemalter Palmenkulisse. Tagsüber ist Rim im
Kinderbetreuungsprogramm.
Rim verkörpert so ziemlich alles, was Hedi an sich und seinem Leben
vermisst: Lebenslust, Spontanität, Körperlichkeit und echte Gefühle. Rim
spricht ihn an, er ist sofort verliebt. Und in Kairouan warten Braut und
Auftraggeber. Hedi verheddert sich. Das schlechte Gewissen ist sein
ständiger Begleiter. Peugeotniederlassung, Mutter, Bruder oder Braut,
ständig vibriert oder piept das Mobiltelefon, Hedis Kontrollgerät, in Ben
Attias Film.
Für sein zurückgenommenes Spiel des Hedi wurde Majd Mastoura auf der
Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Doch gebührt diese
Ehrung mindestens zu gleichen Teilen auch Rym Ben Messaoud. Ohne sie und
ihr Charisma wäre der latent depressiv erscheinende Hedi schwer
auszuhalten. Sie ist die weibliche Gegenfigur zu Paternalismus und
gesellschaftlicher Lüge. Attia verklärt, überhöht oder klischiert ihre
Rolle nicht. Aber diese unerschrockene, unverklemmte arabische Frau gibt es
eben auch.
## Emanzipation nicht ohne Härten
Auch wenn mitschwingt, dass es die Emanzipation für Frauen wie Rim nicht
ohne Härten gibt. Und sie ohne Ausland und wechselnde Jobs in der
Tourismusbranche wohl kaum in ihrer Unabhängigkeit existieren könnte. Aber
gerade ihr selbstbewusstes und gleichzeitig völlig selbstverständliches
Auftreten gibt Attias Geschichte die entscheidende Brechung.
Dass junge sensible und verhätschelte Männer wie Hedi gegen die Übermutter
aufbegehren, wäre so sensationell allein nicht. Rim gibt dem Ganzen die
über sich selbst hinausweisende Richtung. Eine, die den gefangenen Söhnen
zeigt, dass es auch anders als mit Rückzug in Wehleidig- und Innerlichkeit
gehen könnte. Tunesiens Jugend hat sich in der Revolution 2010/2011
kollektiv erfahren und erlebt.
Der Aufstand gegen Übervater Ben Ali war einer gegen staatlichen
Untertanengeist, aber auch gegen gesellschaftliche Zwänge. Emblematisch die
Szene, in welcher Attia den Geist von 2010/2011 beschwört. Hedi begleitet
Rim zu einer sufistischen Tanzveranstaltung in ihrem Heimatort. Man kennt
sich. Ob mit oder ohne Kopftuch, schulterfrei und mit enganliegendem Top
wie Rim; ob Mann mit oder ohne Fes, gemeinsam feiern sie und tanzen sich in
Trance. Ben Attia erzählt so eher beiläufig von einem Tunesien, das
Hoffnung macht.
Und Hedis Hochzeit? Nun, das Leben ist keine Freizeitanlage. Doch mit
Aussteigern ist zu rechnen.
22 Sep 2016
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Tunesien
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Frauenrechte
Kino
Familie
Milo Rau
Kunstsammlung
Schwerpunkt Berlinale
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