# taz.de -- Flucht und Familienzusammenführung: Einen Plan B gibt es nicht | |
> Ein Eritreer kommt nach Deutschland, wird als Flüchtling anerkannt. | |
> Dennoch darf seine Familie bis heute nicht nachkommen – kein Einzelfall. | |
Bild: Geretteter Bootsflüchtling auf dem Mittelmeer im August 2018: Auch Mussi… | |
Oranienburg taz | Als er von der Geburt seiner jüngsten Tochter erfährt, | |
hockt Mussie M.* gerade eingepresst zwischen Hunderten schwitzenden Körpern | |
auf einem überfüllten Kahn, mitten auf dem Meer – irgendwo zwischen Libyen | |
und Italien. | |
Der Eritreer hat Glück: 2014 rettet die italienische Küstenwache noch | |
Menschen aus Seenot, bringt ihn und die anderen sicher an Land. Er schlägt | |
sich bis nach Deutschland durch – und landet schließlich in Oranienburg. | |
Anfang 2016 wird Mussie M. der [1][Flüchtlingsstatus] zuerkannt. Er glaubt, | |
nun endlich seine Frau und seine drei Kinder nachholen zu können. Die | |
jüngste Tochter ist mittlerweile ein Kleinkind. Er hat sie noch nie | |
gesehen. | |
So wie er hofften und hoffen viele Menschen, die nach Deutschland geflohen | |
sind, bald wieder mit Angehörigen vereint zu sein. Insgesamt beantragten | |
laut der Bundesregierung 2018 etwa 132.000 Menschen Visa zum | |
Familiennachzug nach Deutschland. Unter ihnen sind auch zahlreiche | |
Nichtgeflüchtete, etwa ausländische Ehepartner von deutschen Staatsbürgern. | |
Genehmigt wurden die Anträge 2018 in knapp 107.000 Fällen. Gut 33.000 von | |
ihnen kamen laut Bundesregierung aus den sieben Hauptherkunftsstaaten von | |
Flüchtlingen: Syrien, Irak, Afghanistan, Iran, Eritrea, Jemen und Somalia. | |
Doch Mussie gehört nicht zu denen, die Glück hatten. Nicht 2018 und auch | |
nicht in den vorangegangenen oder folgenden Jahren. Er wartet noch immer. | |
Heute, fast dreieinhalb Jahre nach seiner Anerkennung als Flüchtling, ist | |
seine Familie noch immer in Äthiopien, von wo er 2014 aufgebrochen ist. Und | |
was er in der Zwischenzeit erlebt hat, lässt ihn ratlos zurück. Der | |
36-Jährige ist ein schmaler, stiller Mann, dessen Stottern und | |
Sprachschwierigkeiten ihm das Erzählen nicht einfach machen. Ihm gegenüber | |
in seinem kleinen Zimmer sitzt Ulli Kaiser, ein Oranienburger, der ihn | |
unterstützt, seit sie sich kurz nach seiner Ankunft in Deutschland über die | |
katholische Gemeinde kennengelernt haben. Kaiser ist ein herzlicher Mann | |
mit polterndem Lachen und – er betont das mehrfach – glühender Anhänger d… | |
europäischen Werte. Doch die Odyssee, bei der er M. seit drei Jahren | |
begleitet, hat seinen Glauben an den hiesigen Rechtsstaat erschüttert. Was | |
ist passiert? | |
## Es passiert: Nichts | |
Nachdem M. Anfang 2016 den Antrag auf Familienzusammenführung stellt, | |
passiert erst einmal über viele Monate lang nichts – keine Antwort. Erst | |
Ende 2017, also eineinhalb Jahre nach dem ersten Antrag, bekommt seine Frau | |
einen Termin bei der deutschen Botschaft in Addis Abeba. Sie reicht die | |
nötigen Dokumente ein. Danach geht wieder ein Jahr ins Land, ohne dass die | |
Familie von der Botschaft hört. Im November 2018 kommt ein Schreiben: Der | |
Visumsantrag könne nur bearbeitet werden, wenn Vater- und Mutterschaft | |
bewiesen sind, heißt es darin. Ein DNA-Test wird empfohlen. Außerdem soll | |
Mussie M. beweisen, dass er genug verdient und eine ausreichend große | |
Wohnung zur Verfügung hat, damit seine Familie nicht auf Leistungen des | |
deutschen Staates angewiesen ist. | |
Er und seine Frau zahlen insgesamt 800 Euro für die Tests, Monate vergehen. | |
Doch noch sind alle zuversichtlich. Denn inzwischen hat M. einen festen Job | |
bei einer Oranienburger Straßenbaufirma, eine Wohnung, die er mit zwei | |
anderen Eritreern teilt, und die schriftliche Garantie von Ulli Kaiser, | |
dass seine Familie zu Anfang in dessen großem Haus auf dem Land unterkommen | |
kann, bis sie etwas Eigenes gefunden hat. Das ist mehr, als nötig wäre. | |
Denn anerkannte Flüchtlinge haben eigentlich sowieso Anspruch auf | |
sogenannten „privilegierten Familiennachzug“. Sie müssen weder ausreichend | |
Wohnraum vorweisen noch selbstständig ihren Lebensunterhalt bestreiten, um | |
ihre Familien nachzuholen. Mussi müsste eigentlich also ohnehin nichts | |
beweisen. Doch die Botschaft ist anderer Ansicht. Im Mai 2019 kommt die | |
Ablehnung. Der Verdienst sei zu gering, die Wohnung zu klein, heißt es in | |
dem Schreiben, das der taz vorliegt. Ulli Kaiser kann es nicht fassen. „Ich | |
dachte: Die sind sich nicht einmal zu schade, zu lügen.“ | |
Die beiden beauftragen einen Anwalt, der Einspruch einlegt. Im Juni meldet | |
sich die Botschaft zurück. Auf den Einspruch des Anwalts geht sie nicht | |
ein, denn: Wie viel Mussie M. verdiene und wo er wohne, sei irrelevant. | |
Seine Familie könne ohnehin nicht kommen, da die deutschen Behörden davon | |
ausgingen, dass ein Familienleben auch in Äthiopien möglich sei. | |
Tatsächlich lebte Mussie M. mit seiner Familie in Äthiopien, bevor er 2014 | |
zusammen mit seiner Frau entschied, die gefährliche Reise gen Europa über | |
den Sudan und Libyen zu wagen – zunächst allein. Schon mit 17 Jahren war er | |
aus seinem Heimatland Eritrea geflohen, um dem Zwangsdienst zu entgehen, | |
aus dem das Militärregime die jungen Männer manchmal über Jahrzehnte nicht | |
mehr entlässt. Elf Jahre arbeitete M. danach in Saudi-Arabien auf dem Bau, | |
sieben Tage die Woche. Schließlich geht er nach Äthiopien, heiratet, wird | |
Vater. Doch auch dort sieht er keine Perspektive für sich und seine | |
Familie. Die meisten Eritreer leben dort in Armut, und – so sagt Mussie M. | |
– in Angst vor dem langen Arm des eritreischen Regimes, der bis ins | |
Nachbarland reiche. | |
## Fehler oder Absicht? | |
All das war den deutschen Behörden bekannt, als sie M. als [2][Flüchtling] | |
anerkannten und er seinen Antrag auf Familienzusammenführung stellte. Um | |
ihn mit dieser Begründung abzulehnen, hätte es all die Jahre des Wartens, | |
die Tests und Bescheinigungen nicht gebraucht. Hinzu kommt, dass es nicht | |
möglich ist, bei der deutschen Botschaft in Eritrea einen Antrag auf | |
Familiennachzug zu stellen – offiziell heißt es dazu von der | |
Bundesregierung, die Botschaft in Asmara unterhalte als „Kleinstvertretung“ | |
keine eigene Visastelle. Die Familien von eritreischen Flüchtlingen haben | |
deswegen keine andere Chance, als ihre Anträge in Äthiopien, Kenia oder dem | |
Sudan zu stellen. | |
Ulli Kaiser lacht bitter, als er von diesem jüngsten Schreiben erzählt. | |
„Ich bin entsetzt, wie in unserem Land Menschen von den Behörden behandelt | |
werden.“ Er ist mittlerweile überzeugt, das hinter dem ganzen kein Fehler | |
steckt, sondern Absicht. Kaiser unterstützt auch andere eritreische | |
Flüchtlinge und sagt, er kenne persönlich keinen Fall, in dem jemand seine | |
Familie nachholen konnte. Er glaubt: „Es soll den Leuten hier so schlecht | |
gehen, dass sie freiwillig das Land wieder verlassen.“ | |
Es gibt keine Belege für Kaisers Vermutung – und da M. von seinem Anwalt | |
geraten wurde, anonym zu bleiben, konnte die taz die deutsche Botschaft | |
nicht mit seinem konkreten Fall konfrontieren. Allerdings lässt sich | |
festhalten: Die deutschen Behörden haben Eritreerinnen und Eritreern in den | |
vergangenen Jahren immer seltener den Familiennachzug erlaubt. Wurde 2017 | |
gut die Hälfte aller Anträge positiv entschieden, gewährten die Behörden | |
2018 nur noch in 634 von rund 1.750 Fällen den Familiennachzug – fast zwei | |
Drittel der Antragsteller*innen scheiterten demnach – und das, obwohl der | |
großen Mehrheit der Eritreer*innen in Deutschland die | |
Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Flüchtlingsorganisationen berichten | |
zudem, dass viele Betroffene über lange Wartezeiten und andere formale | |
Hindernisse klagten. | |
Obwohl insgesamt immer noch relativ viele Anträge auf Familiennachzug | |
bewilligt werden und genaue Zahlen dazu fehlen, wie hoch die Annahmequote | |
bei Familien von Geflüchteten genau ist, lassen sich auch bei | |
Nicht-Eritreeren deutliche Entwicklungen beobachten. So lagen die | |
Annahmequoten bei Menschen aus den klassischen Flüchtlingsstaaten in vielen | |
Fällen niedriger als im Durchschnitt – beispielsweise wurde jeder zweite | |
Antrag aus Afghanistan abgelehnt. Für Afghanen standen die Chancen noch | |
2017 deutlich besser. | |
## 30 Wochen Warten auf einen Termin | |
Und auch Flüchtlinge, die in griechischen Aufnahmelagern warten, bekamen | |
zuletzt immer seltener die Erlaubnis, zu ihren Angehörigen nach Deutschland | |
zu kommen. Nach Berichten der Funke-Mediengruppe lehnten die deutschen | |
Behörden allein in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres drei | |
Viertel derartiger Visa-Anträge ab. Noch 2017 waren rund 90 Prozent der | |
Anträge erfolgreich. | |
Pro Asyl vermutet hinter dieser Entwicklung politischen Druck der | |
Bundesregierung auf die Behörden, um die Zuzugszahlen niedrig zu halten. | |
Antragsteller*innen, etwa aus Eritrea, würden aktiv behindert, indem | |
Anforderungen an Dokumente erhöht und Auslandsvertretungen schwerer | |
zugänglich gemacht würde. | |
In einer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion die Linke bestreitet die | |
Bundesregierung, dass sich die Weisungen des Auswärtigen Amts an die | |
Botschaften in Sachen Visa-Vergabe für den Familiennachzug geändert hätten. | |
Die meisten der Anträge von Eritreer*innen etwa würden abgelehnt, weil sie | |
wichtige Dokumente nicht vorweisen könnten – was bei Mussie M. nicht der | |
Fall war. | |
Über die durchschnittliche Bearbeitungszeit der Anträge gibt die | |
Bundesregierung keine Auskunft. Bis zum ersten Termin bei der Botschaft | |
aber dauere es in Addis Abeba rund 30 Wochen, in Nairobi mindestens 18 | |
Monate. An den relevanten Botschaften in Addis Abeba, Nairobi und Khartum | |
gebe es Wartelisten für Termine, auf denen insgesamt über 6.000 Menschen | |
stünden. | |
Mussie M. hat sich noch nicht getraut, seiner Frau von der Ablehnung zu | |
erzählen. Lieber wartet er noch ein wenig ab. Sein Anwalt legt jetzt | |
Beschwerde gegen das Vorgehen der Botschaft ein. „Vielleicht kann meine | |
Familie ja doch noch kommen“, sagt M. Was er tue, wenn es nicht so kommt? | |
M. zuckt die Achseln. Einen Plan B gibt es nicht. | |
*Name geändert. Der richtiger Name ist der Redaktion bekannt | |
8 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Alicia Lindhoff | |
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