| # taz.de -- Comiczeichner Luz über Vernon Subutex: „Fast selbstmörderische … | |
| > Ex-„Charlie Hebdo“-Zeichner Luz hat Virginie Despentes' Subutex-Trilogie | |
| > zu einem Comic verarbeitet. Die Romane waren für ihn wie eine Katharsis. | |
| Bild: Rockmusik ist wichtig in „Vernon Subutex“ | |
| Der französische Comiczeichner Luz alias Rénald Luzier war einer der | |
| wichtigsten Zeichner des Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Bei dem Anschlag | |
| auf die Redaktion am 7. Januar 2015 hat er viele seiner Freunde verloren. | |
| In dem Antihelden aus der auch in Deutschland erfolgreichen Romantrilogie | |
| „Das Leben des Vernon Subutex“ von Virginie Despentes erkennt er sich | |
| selbst ein Stück weit wieder. Ein Gespräch über das Verarbeiten der | |
| Romanvorlage im Comic und die heilende Wirkung des Zeichnens. | |
| taz am wochenende: Luz, was war Ihr erster Eindruck beim Lesen der | |
| [1][„Vernon Subutex“-Romane]? | |
| Luz: Als man mich gefragt hat, ob ich die Adaption übernehmen will, kannte | |
| ich nur den ersten der drei Romane. Ich war von dem Buch völlig | |
| überwältigt. Da sprach jemand aus einer weit entfernten Vergangenheit zu | |
| mir und erzählte, was aus meinen Freunden geworden war. Ich hatte das | |
| Gefühl, all diese Figuren zu kennen. Aber je mehr mich dieses Buch einnahm, | |
| desto weniger wollte ich es adaptieren, denn mir ging das alles zu nah. Ich | |
| las dann die beiden anderen Teile und musste einsehen, dass diese | |
| Geschichte wie für mich gemacht ist. | |
| Was hat Sie an dieser Geschichte so fasziniert? | |
| Es geht darum, was diese Figuren erleben. Ich will hier nicht zu viel | |
| verraten, aber der zweite Band hat mich in seiner Schönheit überwältigt, | |
| während der dritte Band ziemlich hart ist. Er ist gewaltig, im wahrsten | |
| Sinne des Wortes. Diese Bücher waren wie eine Katharsis. Diese Geschichte | |
| handelt von allem, was ich mit mir herumtrage. Was in meinem Kopf ist und | |
| mich immer wieder aufwühlt. | |
| Das müssen Sie erklären. | |
| Der Roman handelt von all jenen, die in diese riesige Stadt geworfen | |
| werden. Paris ist eine Stadt, die von dir verlangt, ständig über dich | |
| hinauszuwachsen, wenn du nicht eingehen willst wie eine Pflanze. Als ich | |
| aus der Provinz nach Paris kam, ging es mir ähnlich. Deshalb hatte ich das | |
| Gefühl, dass ich all die Figuren aus dem Roman kenne. Ich bin denen auf der | |
| Straße, im Café oder im Supermarkt begegnet. Auf einer anderen Ebene | |
| handelt der Roman von einem, der versucht, allein zurechtzukommen. Dieses | |
| Gefühl hat mich an die Zeit nach dem Anschlag erinnert, der inzwischen mein | |
| ganzes Leben überschattet. Ich hatte damals das Gefühl, ganz allein in | |
| dieser riesigen Stadt zu sein. Mir war, als hätte ich all meine Freunde | |
| verloren. Ich konnte mich gut in [2][Vernon Subutex] hineinversetzen. Auch | |
| er hat das Gefühl, all seine Freunde verloren zu haben, und sucht nach | |
| einer Gemeinschaft. | |
| Ist der Comic auch eine Art Hommage an Ihre ermordeten Freunde? | |
| Nein, keine Hommage. Die Toten sind tot, ich kann ihnen nichts mehr sagen. | |
| Aber es gibt die Überlebenden und Hinterbliebenen, die mit den Ereignissen | |
| klarkommen müssen. Für sie ist diese Geschichte eine Art Echo. Insbesondere | |
| zu Beginn, weil sie uns mit der Einsamkeit der Figuren konfrontiert. Wir | |
| sehen, wie verloren sie sind. Sie drehen sich aufgekratzt um sich selbst – | |
| wie Fliegen, die um ein Stück Fleisch schwirren. So ging es vielen nach den | |
| Anschlägen, und so geht es auch heute noch vielen Menschen. | |
| [3][Vernon ist ein Einzelgänger], den seine ganzen Verluste nicht zu | |
| kümmern scheinen. | |
| Das stimmt. Während alle anderen um ihn herum mit der Vergangenheit und | |
| ihren materiellen Verlusten kämpfen, ist ihm das tatsächlich völlig egal. | |
| Das nimmt fast selbstmörderische Züge an. Aber er ist an einem Punkt, an | |
| dem es auch nichts mehr gibt, für das er sich zusammenreißen müsste. Ohne | |
| jede Einschränkung akzeptiert er seine Situation, während all seine Freunde | |
| damit hadern, dass es früher besser war. Das hat mich echt gepackt. Wie | |
| kommt man trotz aller Rückschläge voran? Wie lässt man die Vergangenheit | |
| hinter sich, ohne sie auszulöschen? Vernons Mut zum Fatalismus hat bei mir | |
| etwas ausgelöst. Er hört einfach auf, sich aufzureiben, und gibt sich der | |
| Idee hin, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Das hätte ich nach dem | |
| Attentat auch gern gekonnt. | |
| Hatten Sie beim Lesen direkt Bilder im Kopf? | |
| Recht schnell, ja. Eines der ersten Bilder war eines der alten Dame, die | |
| Vernon im Park trifft. Es ist ein ganz unscheinbares Bild im Comic, aber es | |
| hat sich mir aufgedrängt. Inzwischen denke ich, mein ganzes Leben besteht | |
| aus unauslöschlichen Bildern, die sich mir aufdrängen. Alles was ich tun | |
| muss, ist ihnen zu folgen. Es gibt deshalb viele kleine Details, die mir | |
| wichtig waren. In ihnen zeigt sich nicht nur meine Persönlichkeit, sondern | |
| in ihnen liegt auch die Seele dieses Comics. | |
| Nicht in der Musik? | |
| Beides ist miteinander verbunden. Ich habe für Vernon viel Zeit damit | |
| verbracht, noch einmal meine alten Platten zu hören. Nach den Anschlägen | |
| war die Musik aus meinem Leben verschwunden, ich konnte keine Musik mehr | |
| hören. Beim Zeichnen habe ich wieder zu meinen Platten gegriffen und den | |
| Groove gefunden, der lebendig macht. Irgendwann saß ich nur noch in meiner | |
| Wohnung, habe Musik gehört und gezeichnet. Ich wollte von niemandem gestört | |
| werden. Und jetzt, nach fast 700 Seiten, ist die Musik wieder fester Teil | |
| von meinem Leben. So habe ich dank Vernon wieder zur Musik gefunden, und | |
| aus dieser Arbeit wurde eine sehr persönliche Reise. | |
| Jetzt erscheint der erste von zwei Bänden. Der knallt einen ganz schön auf | |
| die Bretter. | |
| Ja, er ist hart in dem Sinne, als dass man den Figuren wirklich auf den | |
| Grund geht. Man kratzt Schutzschicht um Schutzschicht ab, um zu schauen, | |
| was da eigentlich noch an Menschlichkeit ist. Virginies Romane zeigen, dass | |
| der Menschlichkeit etwas zutiefst Absurdes innewohnt. Denn was uns am Leben | |
| hält, wenn wir am Boden liegen, ist das Wissen darum, dass selbst die | |
| schlimmsten Dinge irgendwann vorbei sind. Und in dem Moment, in dem wir das | |
| begreifen, sagen wir uns, na los, weiter gehts. | |
| Wie muss ich mir die Zusammenarbeit mit Virginie Despentes vorstellen? | |
| Ich bin zu Beginn zu ihr gefahren und wir haben uns unterhalten. Dann hat | |
| sie mir ihr Paris gezeigt, eine Stadt, die ich so nicht kannte. Wir waren | |
| im Parc des Buttes-Chaumont und sie zeigte mir die Ecken, wo die | |
| Obdachlosen leben, wo sich die Jugendlichen treffen, wo die muslimischen | |
| und die jüdischen Familien sind. So entdeckte ich völlig neue Seiten an | |
| einer Stadt, von der ich lange dachte, sie zu kennen. | |
| Wie haben Sie die hagere Figur Vernon Subutex entworfen? | |
| Ich wollte, dass er wie der Plattenhändler aus meiner Heimatstadt Tours | |
| aussieht. Dem hab ich es zu verdanken, Bands wie Jefferson Airplane | |
| entdeckt zu haben. Er war ein dürrer Eigenbrötler, der immer nach Qualm | |
| roch. Seinen kalten Zigarettenrauch sollte man meinem Vernon ansehen. Ich | |
| wollte einen sympathischen Typen, der ganz in seiner eigenen Welt lebt und | |
| für seine Kunden da ist. Solche Typen sind inzwischen selten. | |
| Wer ist Vernon Subutex für Sie? | |
| Vernon ist ein sehr pragmatischer Typ, für ihn geht es immer weiter, egal | |
| was passiert. Das habe ich mir von ihm abgeschaut. Egal, was in meinem | |
| Leben passiert ist, ich darf weiter Musik hören, Spaß haben und lachen. Mit | |
| ihm habe ich gelernt, mich selbst wiederzufinden. Mich mit mir und der Welt | |
| zu versöhnen. Als ich nach den Anschlägen die sozialen Medien verließ, | |
| hatte ich in meinem letzten Post geschrieben: „Wir gehen im Nebel, aber | |
| wenigstens gehen wir.“ Vernon ist einer, der immer weitergeht. Wie eine | |
| Giacometti-Figur läuft er beschwingt und sorgenfrei in die Zukunft. Er | |
| läuft, egal was kommt. | |
| Der Fantasie haben Sie beim Zeichnen hingegen freien Lauf gelassen. Ihr | |
| Comic besticht durch seine grafische Vielfalt. | |
| Wer den Comic öffnet, sollte das Gefühl bekommen, einen Plattenladen zu | |
| betreten. Jede Seite sollte wie ein Plattencover wirken und hat deshalb ihr | |
| eigenes Konzept, sodass man immer wieder Neues entdecken kann. Ich habe mir | |
| aber keine festen Regeln gegeben, sondern wollte die erzählerische | |
| Explosion, die ich beim Lesen der Romane empfand, im Comic nachbilden. | |
| Sie spielen auch viel mit der Panelstruktur. | |
| Mir war klar, dass diese Geschichte keinen strengen Rhythmus verträgt. Die | |
| Musik hat den Rhythmus der Bilder vorgegeben. Mit der Musik mussten die | |
| Panels explodieren, durchgeschüttelt werden und eine eigene Anordnung | |
| finden. Es gibt Panelfolgen, die an die schnellen Riffs der Ramones | |
| erinnern, und dann wieder ruhigere Seiten, die die meditative Wirkung der | |
| Doors spiegeln. Mal gibt es direkt einen auf die Zwölf, dann wieder ist | |
| alles genau ausbalanciert und nahezu hypnotisch. Wie bei einem Konzert. | |
| Insgesamt braucht man jetzt um die drei Stunden, um den ersten Band zu | |
| lesen. Das entspricht einem guten Konzertabend. | |
| Sie haben Jahre mit dieser Trilogie verbracht. Was ist das Besondere an | |
| diesen Romanen? | |
| Mir gefällt an der Trilogie, dass sie nicht nur von Musik und Freundschaft, | |
| sondern auch von der Freiheit handelt. Die Figuren werden nicht in | |
| Klischees gepresst, sondern sind offen für jede Form der Begegnung. Vernon | |
| schläft mit Marcia, die früher ein Kerl war und immer noch einen Schwanz | |
| hat. Das wird aber nicht weiter hervorgehoben, sondern es ist einfach so. | |
| Alles an dieser Trilogie ist fluide. Sie handelt von Musik, geht aber weit | |
| darüber hinaus. Sie handelt von den Menschen, ohne sich um Geschlechter, | |
| Glauben oder Ideologie zu scheren. Diese Geschichte ist Teil einer offenen | |
| Welt, in der alles möglich und alles normal ist. Die einzige Frage, die sie | |
| aufwirft, ist die nach dem Zusammenhalt: Wie können wir gemeinsam leben, | |
| ohne mit uns allein zu sein? | |
| 25 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Hummitzsch | |
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