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# taz.de -- Graphic Novel „Volle Leichenhalle“: Hang zur Groteske
> Der Autor Jean-Patrick Manchette hat dem französischen Krimi seine
> Maigret-Gemütlichkeit ausgetrieben. Max Cabanes hat den Autor nun
> adaptiert.
Bild: Pariser Straßenszene aus Cabanes’ Manchette-Adaption
Jean-Patrick Manchette verstarb 1995, mit gerade 52, an Lungenkrebs. Zuvor
hatte er mit zehn zwischen 1971 und 1981 erschienenen Romanen dem
französischsprachigen Krimi die Maigret-Gemütlichkeit ausgetrieben.
Manchette verehrte hard boiled writers wie [1][Dashiell Hammett], Donald E.
Westlake und [2][Ross Thomas]. Aber er ahmte sie nicht nach, sondern
eignete sich ihr Vorbild produktiv an. So wurde er zum Chronisten seiner
Gegenwart. Scheinbar nebenbei liefert sein Werk ein gültiges Zeitbild der
1970er, in ihrer ganzen desillusioniert-schäbigen Schlaghosenhaftigkeit.
Es gibt mehrere Adaptationen Manchettes in Film und Comic. Der düstere
Polit-Thriller „Nada“, verfilmt von Claude Chabrol, kam schon 1974 ins
Kino. Zwischen 2005 und 2011 [3][hat Jacques Tardi aus drei weiteren
Romanen tolle Graphic Novels gemacht] („Killer stellen sich nicht vor“,
„Zum Abschuss freigegeben“, [4][„Im Visier“]). Auch der 1947 geborene M…
Cabanes schätzt Manchette wohl sehr: „Volle Leichenhalle“ ist sein vierter
Comic nach einer Vorlage des Autors.
Eugène Tarpon, die Hauptfigur, ist ein ehemaliger Polizist. Bei einer
Demonstration hat er, halb aus Panik, halb aus Versehen, einen
Demonstranten getötet. Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst versucht er sich
erfolglos als Detektiv. Ausgerechnet als er resigniert beschlossen hat, zu
seiner alten Mutter aufs Dorf zurückzukehren, taucht mitten in der Nacht
eine junge Frau namens Memphis Charles bei ihm auf. Sie erzählt aufgelöst,
dass ihre Mitbewohnerin Griselda brutal ermordet worden ist. Als Tarpon ihr
empfiehlt, die Polizei aufzusuchen, schlägt sie ihn nieder.
## Sitekick ist ein pensionierter Kriminalreporter
Wieder zu Bewusstsein gekommen, bricht er zum Tatort auf, nur um sich dort
sofort der Polizei verdächtig zu machen. Dies bleibt allerdings nicht seine
einzige Sorge. Tarpon wird mehrfach gekidnappt, erst von einer Gruppe
gewaltbereiter Linksextremisten, dann von amerikanischen Gangstern, die im
Dienst eines rätselhaften Mannes stehen, der zwar dauernd in Tränen
ausbricht, aber keinen Zweifel daran lässt, bei der Verfolgung seiner Ziele
nicht wählerisch zu sein.
Zur Seite steht Tarpon nur Haymans, ein alter, eigentlich in Pension
befindlicher Kriminalreporter, der auf Polizeistationen herumhängt, weil er
nicht von seinem Job lassen will.
Im politischen Subtext von „Volle Leichenhalle“ teilt Manchette nach zwei
Seiten gleichermaßen aus. Einerseits wird in der Darstellung der
Terrorgruppe als dusseliger, irrer-wirrer Haufen die völlige Verachtung
deutlich, die der gleichwohl ausgesprochen linke Manchette für diese Form
von Aktivismus hegte.
Andererseits legt der Roman eine Spur antisemitischer und faschistischer
Tendenzen bloß, die bis in die Zeit der Okkupation zurückreicht. Am Ende
ist es ein blutverschmierter Papierfetzen aus Wilhelm Reichs
„Massenpsychologie des Faschismus“, der Tarpon plötzlich verstehen lässt,
wer Griselda umgebracht hat.
## Auf Spuren von Jacques Tardi
Anders als Tardi, der Manchette in schwarz-weißen Tuschezeichnungen
umgesetzt hat, bedient Cabanes sich der Farbe. Sichtlich Spaß scheint er
daran zu haben, immer wieder durch kleine Hinweise die Zeit, zu der die
Handlung spielt, zu verdeutlichen. Tapeten haben grelle Muster, die einem
sofort die Augen schmerzen lassen; im Kino läuft [5][Stanley Kubricks] „A
Clockwork Orange“; ein Polizist, der in einem Auto sitzend Tarpon
beschattet, liest das von 1959 bis 1989 herausgegebene Comic-Magazin
„Pilote“.
In der Lobby des Hotels Hilton begegnet Tarpon dem Ehepaar McCartney; Paul
trägt die kleine Stella auf dem Arm. Der weinende Mann gleicht dem
Gangsterboss Kingpin aus dem Marvel-Universum.
Sowohl in seinem Figuren-Design als auch bei der Schilderung von Szenen der
Gewalt – von „Action-Szenen“ mag man nicht sprechen – hat Manchette ein…
Hang zur Groteske. Tardi wird beidem virtuos gerecht; Cabanes tut sich
etwas schwerer. Er mag es eigentlich elegant, und mitunter hat man den
Eindruck, dass es ihm etwas wehtut, nicht im konventionellen Sinn schönere
Bilder zu Papier bringen zu dürfen.
Bei den Visagen Tarpons und Haymans legt er seine Hemmungen aber ab: Mit
vertikalen und horizontalen Strichen markiert er drastisch die
Verwüstungen, die das Leben und die Jahre bei diesen Männern hinterlassen
haben.
26 Jul 2022
## LINKS
[1] /Nationalfriedhof-von-Arlington/!5711275
[2] /Ross-Thomas-Fette-Ernte-uebersetzt/!5034896
[3] /Comiczeichner-Jacques-Tardi-in-Basel/!5565975
[4] /Graphic-Novel-Im-Visier/!5103507
[5] /Ennio-Morricone-ueber-Leone-und-Kubrick/!5045474
## AUTOREN
Christoph Haas
## TAGS
Kriminalliteratur
Comic
Graphic Novel
Kriminalroman
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Feminismus
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