# taz.de -- Graphic Novel „Der Araber von morgen“: Multikultur für Anfäng… | |
> Riad Sattouf erzählt eine Kindheit zwischen Europa und dem Nahen Osten – | |
> mit subversivem Witz gegen Antisemitismus und das Patriarchat | |
Bild: Szene aus Riad Sattouf, Der Araber von morgen, Band 5 | |
Der kindliche Blick kann entwaffnend sein. Gerade durch die Perspektive des | |
Zeichners. Der kindliche Blick ist zunächst von purer Neugier getrieben. Er | |
verengt (oder weitet) sich erst mit Summe seiner zeitlich und räumlich | |
getätigten Erfahrungen. Kindheit und Jugend sind universell, die | |
Verhältnisse, in denen sie verbracht werden, sie sind es nicht. Der | |
Comicautor Riad Sattouf lädt das Publikum ein, ihn auf eine | |
arabisch-europäische Kindheitsreise zu begleiten. Und ihm folgt dabei eine | |
große Leserschaft. | |
Zwei Millionen Exemplare hat Riad Sattouf seit 2014 von den ersten vier | |
Bänden seines „Der Araber von morgen“ in Frankreich verkauft. In 22 | |
Sprachen erscheint seine große Graphic-Novel-Entwicklungsgeschichte. Er | |
habe Leser:innen im Blick, die sonst eher keine Comics anschauen, sagt | |
Sattouf. Das ist ihm also gelungen. Die abend- und morgenländische Odyssee | |
einer Familie, dargestellt aus der Perspektive des Kindes, fasziniert. | |
Sattouf erzählt von den immer merkwürdigeren Schrullen eines vom | |
Panarabismus zum Panislamismus konvertierenden Vaters. Von den | |
Auseinandersetzungen seiner europäischen Mutter mit dem patriarchalen | |
Gestus des Vaters – und dem Versuch, als Kind dabei nicht auf der Strecke | |
zu bleiben. | |
Kritiker in Frankreich haben Sattoufs Erzählstil mit dem von René Goscinny | |
und Jean-Jacques Sempé verglichen. Diese entwickelten ab Ende der 1950er | |
Jahre die Comicserie „Der kleine Nick“. Und revolutionierten damit den | |
Erzählstil und die Haltung gegenüber kindlicher Wahrnehmung weit über das | |
Comicgenre und Frankreich hinaus. „Der kleine Nick“ arbeitet mit kindlichem | |
Humor gegen eine oft allzu vernünftige und unhinterfragbare Logik der | |
Erwachsenenwelt. Amüsante generationelle Missverständnisse und die | |
Leichtigkeit der Satire contra die Schwere bleiern erscheinender Themen | |
oder Zustände. | |
## „Sattouf, Saudoof, Strohdoof“ | |
Mit ebensolchen Kinderaugen erzählt Riad Sattouf, geboren 1978 in Paris, | |
von den Parodoxien seiner Kindheit im Nahen Osten und in Frankreich. Als | |
Kind muss Riad herausfinden, welchen anderen er in Rennes besser ausweicht | |
– „Sattouf, Saudoof, Strohdoof“. Oder, warum sein Vater nicht will, dass … | |
ein „Schwuli“ (ein Künstler) wird. Oder, welches Mädchen ihn, Riad, so ma… | |
wie er ist. Oder, warum er, wie in einer Szene in Band 5 dargestellt, von | |
Skins in Rennes verhauen wird, deren Chef ihm aber arabisch zu sein | |
scheint, und warum die alle Kappen tragen und HipHop hören. | |
Oder, wer von seinen Cousins im syrischen Ter Maaleh ihn verteidigen und | |
mit ihm spielen würde. Dort galt der kleine Riad in den 1980ern wegen | |
seiner helleren Haare als „Jude“, dem man bei jeder sich bietenden | |
Gelegenheit nachstellte. | |
Sattoufs Eltern hatten sich beim Studium an der Universität Sorbonne in | |
Paris kennengelernt. Sie, eine bildungshungrige Aufsteigerin aus der | |
Bretagne, er, ein angehender Akademiker aus dem ländlich geprägten Gebiet | |
Syriens nahe Homs. Die Stadt Homs war 2010/11 eine Hochburg der Opposition | |
gegen das Assad-Regime. Im Bürgerkrieg wurde sie schwer bombardiert, viele | |
getötet oder vertrieben. | |
Riad Sattouf sagt, dass er bei Ausbruch des Kriegs in Syrien Verwandten aus | |
der bei Homs gelegenen Kleinstadt Ter Maaleh flüchten half. Danach ging er | |
an die Umsetzung des „Arabers von morgen“, um autobiografisch von seiner | |
Kindheit erzählen. Von 2004 bis 2014 hatte er zuvor für die Zeitschrift | |
Charlie Hebdo wöchentlich den Comic „La vie secrète des jeunes“ gezeichne… | |
Also bevor Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 von Islamisten in Paris | |
überfallen wurde. | |
## Entführter Bruder | |
Im syrischen Ter Maaleh spielen wesentliche Passagen der ersten vier Bände | |
des „Arabers von morgen“. Der nun erschienene fünfte behandelt eine länge… | |
Phase in Frankreich. Die Eltern haben sich mal wieder getrennt. Mit seinen | |
Brüdern und der Mutter lebt Riad in Rennes, wo der allmählich Pubertierende | |
die Schule besucht. Die Situation ist dramatisch. Riads Vater war kurz in | |
Frankreich aufgetaucht. Nach einer vorgetäuschten Wandlung zum | |
laizistischen Kinder- und Frauenversteher hat er den jüngsten Bruder Fadi | |
nach Syrien entführt. „Ein Sohn gehört zu seinem Vater.“ Aus Fadi soll ein | |
guter Muslim werden. | |
Auch das französische Außenministerium kann da nicht helfen. Zwischen all | |
dem Schlamassel versucht Riad sein eigenes Leben zu leben, sich selbst zu | |
entdecken. Und hofft schwer, dass in der Schule niemand von all den | |
familiären Peinlichkeiten erfährt. Zudem hält er seine Nase für zu groß, | |
und seine widerspenstigen Haare verbergen auch nur schlecht einen Eierkopf. | |
Ihn plagen ganz allgemein gewisse Selbstzweifel: „Ich riss die Augen auf, | |
um nicht hinterhältig auszusehen.“ | |
Der zwischen Vater und Mutter hartnäckig ausgetragene Kulturkampf um | |
patriarchale Haltungen hat auch bei Riad Spuren hinterlassen. Sein Vater | |
wollte sich nie wirklich auf das Abenteuer Frankreich einlassen. Umgekehrt | |
ist für die Frau und die Kinder das Leben in Ter Maaleh eine wirkliche | |
Zumutung. | |
Um mögliche Misserfolge in Frankreich von vornherein zu vermeiden, erklärte | |
Riads Vater ganz Frankreich zum Hort von Rassismus und westlicher | |
Verderbnis. Nicht ohne dass der Zeichner das staunende Kind in Szenen immer | |
wieder beobachten lässt, wie sein Vater selber voller vulgärer Vorurteile | |
und Anzüglichkeiten steckt. | |
## Dumme Franzosen | |
Erzogen im Geiste der panarabischen Baath-Partei, aufgewachsen in der | |
rabiaten Assad-Diktatur, lacht Vater Sattouf über die dummen Franzosen und | |
die ihm unterlegen erscheinenden Einwanderer aus (Schwarz-)Afrika. Seine | |
eigenen Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Europäer:innen | |
kompensiert er mit der Überhöhung der islamisch-arabischen Welt. | |
„Der Araber von morgen“ spielt, der Titel verrät es bereits, mit den | |
Stereotypen des Panarabismus. Riads Vater träumte wie viele Postkoloniale | |
von einem geeinten arabischen Weltreich. Mit dieser Mischung aus Islam, | |
sowjetischer Planwirtschaft, arabischer Clanstruktur und völkischer | |
Folklore wollte man es dem gleichermaßen bewunderten wie verhassten Westen | |
einst so richtig zeigen. | |
So ging es, [1][am Anfang dieser Entwicklungsgeschichte und wie in Band 1 | |
dargestellt], für den kleinen Riad zunächst von Frankreich in das Libyen | |
des Muammar al-Gaddafi. Keine Stellung in Frankreich schien dem Vater gut | |
genug, doch fluchtartig ging es aus Libyen zurück nach Frankreich. Und | |
weiter nach Syrien. | |
[2][Es folgen Missverständnis auf Missverständnis,] bis schon das Poster | |
eines Kunstgemäldes in der Wohnung in Ter Maaleh für Riads Vater nicht mehr | |
zumutbar erscheint. Den Überfall des Iraks auf Kuwait bejubelt er – „Saddam | |
ist ein Genie“ –, ganz so wie der reaktionäre Teil der | |
Palästinenser:innen seinerzeit schon die Raketenangriffe auf Israel | |
feierte. | |
Die Flucht vor dem Araber von gestern gestaltet sich schwierig. Er zeigt | |
sich zwar ebenfalls mit der Zeit etwas mitgenommen. Doch auch resistent – | |
und bleibt erst einmal mit im Gepäck. | |
23 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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