# taz.de -- Comic „Der Araber von morgen“: Sterben muss er nicht | |
> Riad Sattoufs autobiografischer Comic „Der Araber von morgen“ erzählt von | |
> einer Kindheit in Syrien, ist Zeitreise und Offenbarung zugleich. | |
Bild: Syrische Kindheit in Rosa und Weiß: Riad Sattoufs „Der Araber von morg… | |
Der erste Band des Comics „Der Araber von morgen“ endete mit einer äußerst | |
schlechten Nachricht für seinen Protagonisten und Autor Riad Sattouf: Der | |
idyllische Aufenthalt in der französischen Heimat seiner Mutter war leider | |
nur auf die Dauer der Sommerferien begrenzt. Beim Einstieg ins Flugzeug | |
zurück nach Syrien verabschiedete er sich vom Leser mit entsetzter Miene, | |
denn in dem kleinen Dorf in der Nähe von Homs, woher sein Vater stammt und | |
wo die Familie nun lebt, wird er von üblen Cousins erwartet, die ihn zu | |
Tode prügeln wollen. | |
Neben allerhand persönlichen Missgeschicken, die oft seiner in der | |
arabischen Welt untypisch blonden Haare geschuldet sind, erzählte Sattouf | |
davon, wie sich seine Eltern in den 1970ern an der Pariser Sorbonne | |
kennenlernten und wie die Familie nach Libyen zog, wo der Vater, ein | |
begeisterter Anhänger der panarabischen Idee, eine Stelle an der | |
Universität von Tripolis bekam. Dabei gewährte Riad Sattouf kostbare | |
Einblicke in die Diktatur Muammad al-Gaddafis, bevor die Reise jenseits der | |
üblichen Tourismuswege weiter ins väterliche Syrien ging. | |
[1][Wohlverdient wurde der erste Band von der Kritik bejubelt] und bei dem | |
renommierten Festival von Angoulême mit dem Prix fauve als bestes | |
Comic-Album des Jahres 2015 geehrt. Und auch beim Publikum brachte es das | |
autobiografische Werk für eine Graphic Novel zu außergewöhnlichem Erfolg: | |
In 14 Sprachen übersetzt wurden über 200.000 Exemplare verkauft. | |
Nun ist der zweite Band auch auf Deutsch erschienen – und der kleine Riad | |
darf bei seiner Rückkehr ins Syrien von 1984 erst einmal aufatmen: Die | |
rabiaten Cousins Anas und Moktar sind den ganzen Tag anderweitig | |
beschäftigt. Wie viele Jungs in dem Alter müssen sie Ziegen hüten. Sterben | |
muss der Sechsjährige also noch nicht. Was hingegen eintrifft, ist seine | |
Einschulung – und damit beginnt ein neues Kapitel, Alltag in einem | |
syrischen Dorf vor dreißig Jahren. | |
## Nicht alle Kinder überleben den Winter | |
Disziplin wird an der kärglich ausgestatteten Schule durch Schläge | |
gewährleistet, der Unterricht scheint hauptsächlich aus dem Rezitieren der | |
Nationalhymne, Agitation gegen Israel und dem Vorlesen aus dem Koran zu | |
bestehen. Als die Präsidentschaftswahlen bevorstehen, studiert die Lehrerin | |
mit den Schülern ein lautes „Jaaaa!“ ein – für den einzigen Kandidaten | |
Hafis al-Assad, und spornt sie an, das gute Wort auch ihren Eltern zu | |
predigen. Aus dem Off berichtet der Autor, er könne sich nicht erinnern, | |
jemals ein Wahllokal gesehen zu haben, doch am 10. Februar 1985 wurde Hafis | |
al-Assad tatsächlich mit 100 Prozent Ja-Stimmen wiedergewählt – „Ein | |
Weltrekord!“ | |
Mit kindlicher Aufrichtigkeit beobachtet Riad Sattouf seine Umgebung. Das | |
sorgt für gewisse Komik und legt schonungslos alltägliche Widersprüche | |
offen: Während die Dorfbewohner, wie von der Assad-Propaganda | |
vorgeschrieben, den heraneilenden Fortschritt des Landes preisen, leben sie | |
tatsächlich im fortgeschrittenen Elend. Mangels medizinischer Aufklärung | |
gehen viele erst zum Arzt, wenn es schon zu spät ist. Nicht alle Kinder | |
überleben den Winter. | |
Die Idee zum „Araber von morgen“ kam Riad Sattouf Ende 2011, als er im Zuge | |
des syrischen Bürgerkriegs einem Teil seiner Familie dabei half, nach | |
Frankreich auszuwandern. Die Ausreise aus Syrien verlief problemlos, doch | |
die Verhandlungen mit der französischen Administration brachten ihn an die | |
Grenzen seines Verstandes, erzählt er im taz-Interview. „Es war einfach | |
grotesk. Um aber davon berichten zu können, musste ich die Geschichte ganz | |
von Anfang an erzählen.“ Den groß angelegten Spannungsbogen will er nicht | |
preisgeben, hält sich über Einzelheiten zum weiteren Verlauf seiner | |
Biografie bedeckt: „Das kommt dann alles im letzten, vermutlich vierten | |
Band“. | |
## Sie küssten und sie schlugen ihn | |
Gern dagegen erzählt er, wie er während seiner Arbeit am zweiten Band | |
„Mizukis Leben“ las. Die noch nicht auf Deutsch übersetzte Autobiografie | |
des japanischen Manga-Zeichners Shigeru Mizuki spielt im ländlichen Japan | |
der 1920er Jahre. Sattouf entdeckte viele Ähnlichkeiten zu seiner eigenen | |
Kindheit: „Auch wir waren vom Krieg besessen, bildeten Banden und prügelten | |
uns ständig.“ | |
Viele LeserInnen wiederum teilen bei Signierstunden eigene Erfahrungen mit | |
Riad Sattouf: „Die Schule, wie ich sie in Syrien erlebt habe, ähnelt eben | |
sehr der Schule in Truffauts Film ‚Sie küssten und sie schlugen ihn‘, als | |
Kinder noch Uniformen trugen und der Gewalt der Lehrer ausgesetzt waren – | |
das war vor Mai 68.“ | |
Bei den Lesungen in Brasilien wiederum interessierte man sich sehr für die | |
Schilderung der sozial zutiefst ungleichen Gesellschaft. „Das Leben im Dorf | |
war völlig anders als in Damaskus. Das waren absolut undurchlässige | |
Parallelwelten. Dabei bekommen die Dorfbewohner nie die Gelegenheit, über | |
ihre Lebensbedingungen zu berichten.“ Das sei für ihn auch ein Grund | |
gewesen, in den Bänden davon zu erzählen. | |
Als Sohn eines promovierten Doktors genoss der kleine Riad immerhin das | |
Privileg, zumindest die lokale Elite in ihren Palästen besuchen zu dürfen – | |
Generäle, die zehn Meter tiefe Schwimmbecken ausheben ließen, damit ihre | |
Kinder vom Dach hineinspringen können. Akribisch beschreibt er die | |
unterwürfigen Bestrebungen seines Vaters, die Bonzen dazu zu bewegen, für | |
ihn ein gutes Wort beim Universitätsrektor einzulegen. Sei er doch | |
qualifizierter als der Dozent, dem er lediglich assistiere. „Präsident | |
Assad hat so viel für die Bildung getan, und die Universität strotzt nur | |
vor Begabungen, die sich entfalten wollen“, wirft er ein – und stößt auf | |
taube Ohren. | |
## Rechte Araber? | |
Als es im Kreise der Familie zu einem Ehrenmord kommt, zeigt sich Riads | |
Vater hingegen deutlich weniger engagiert. Beim Porträtieren seines Vaters | |
geht Sattouf generell nicht gerade zimperlich zur Sache. Doch beim groben | |
Strich sei er eigentlich noch liebevoll gewesen, beteuert er. „Mein Vater | |
mag zwar für die Erziehung des Volkes gewesen sein, doch gegen Freiheit und | |
Demokratie war er auch.“ Als Sattouf ihn bei einer Diskussion als | |
rechtsextrem charakterisiert, so sagt er, habe eine Frau aus dem Publikum | |
pikiert reagiert. Das Wort könne man nicht auf Araber anwenden – diese | |
seien doch selbst Opfer von Rassismus. | |
„Das ist doch interessant, wie hartnäckig der arabischen Welt eine | |
Denkweise verweigert wird, die man in Europa täglich vorfindet“, | |
kommentiert Riad Sattouf. „Dabei bin ich mir sicher, dass es in Europa | |
vielen erst mit den arabischen Revolutionen wie Schuppen von den Augen | |
fiel, dass genau die Länder, wo sie tolle Ferien verbrachten, eigentlich | |
krasse Diktaturen waren.“ Als Jugendlicher habe er das nie verstanden, wie | |
dieser Kontext die französischen Landsleute im Urlaub nicht störte. „Dabei | |
bereicherten die Regimes sich an ihnen.“ | |
Vor etwa sechs Jahren verstarb Abdel-Razak Sattouf. Was seine noch lebenden | |
Verwandten, allen voran seine Mutter, vom „Araber von morgen“ und dem | |
Porträt seines Vaters halten, will Riad Sattouf nicht verraten. | |
9 Mar 2016 | |
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## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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