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# taz.de -- Musik über sexuellen Missbrauch: Hungrig einschlafen
> Sexueller Missbrauch bei einem Majorlabel: Die britische Sängerin Raye
> thematisiert Gewalt auf ihrem verstörendem Album „21st Century Blues“.
Bild: Mutig und selbstbewusst: Raye
Raye ist quicklebendig. Die 25-jährige britische R&B- und Pop-Sängerin,
bürgerlich Rachel Agatha Keen, war 2017 mit Powerplay im Radio, dank ihres
leicht bekömmlichen Hits „You don't know me“. Dann wurde es still – bis
jetzt. „My 21st Century Blues“ heißt ihr kürzlich erschienenes Debütalbum
und ist weder leicht noch bekömmlich, sondern verstörend. Musik und Texte
zeigen Raye als talentierte Künstlerin.
Die in Deutschland bekannteste Singleauskoppelung des Albums, „Escapism“,
klingt nach Feiern und viel Selbstbewusstsein. Der Eindruck täuscht:
Leitmotiv der Musik ist [1][keine durchtanzte Nacht, sondern die
Misshandlung einer Frau.] Rayes Sound ist lupenreiner Pop mit
Rap-Elementen, immer mit überraschendem Twist und minimalistischer
Instrumentierung. Ein starker Beat trägt ihre Stimme, trotz aller
Melancholie.
Wenn die Sängerin in „Black Mascara“ erzählt, wie ihre Mutter Rayes
kajalverschmierte Tränen wegwischt, nachdem sie von einem Mann unter Drogen
gesetzt und vergewaltigt wurde, klingt das hypnotisierend. In [2][hellem
Sopran] beginnt sie, dann wird der Beat schneller und der Sound breitet
sich mit pulsierender Unruhe aus, Bis nur noch Bass zu hören ist, der ihre
Worte verschluckt und als Aufforderung zum Tanz wieder ausspuckt. Ihre
Stimme wird fordernder, aus Trauer wird Wut, aus Wut schließlich Tanz.
## Tieftraurige Melodie
In „Ice Cream Man“ singt sie in tieftrauriger Melodie von einem Mann, einem
Produzenten, dem sie sexuellen Missbrauch vorwirft. „Ich war sieben, ich
war 21, ich war 17, ich war elf und ich brauchte lange, um zu verstehen,
was mein Konsens bedeutet“, singt sie, doch sie bleibt nicht dabei:
„Niemals werde ich einen Mann ruinieren lassen, wie ich gehe und spreche.“
Vielfach hat Raye betont, dieses Album erzähle ihre Geschichte, es sei
keine ausgedachte Lyrik, sondern die Skizze ihres eigenen Leidens- und
Heilungsprozesses. Dem britischen Sender BBC erklärte sie, das
Wiederaufreißen ihrer Wunden könne sie durch das Spielen der Songs manchmal
kaum ertragen. Rolling Stone berichtete sie in einem anderen Interview,
keine juristische Schritte gegen die Täter eingeschlagen zu haben und ihre
Heilung, ihre Rückeroberung von Macht allein über ihre Musik gefunden zu
haben. Warum sie nie gegen den Täter vorgegangen ist, auch, um Kolleginnen
beispielsweise vor demselben Produzenten zu schützen, darüber spricht sie
leider kaum.
Natürlich muss Rayes Haltung kontrovers diskutiert werden, bei aller
Bewunderung für dieses Album. Raye hat viele Fans, darunter auch viele
junge Frauen, unter ihnen auch Opfer sexueller Gewalt, die zu ihr
aufblicken. Auf der anderen Seite erzählt Raye ihre Geschichte aus ihrer
eigenen Perspektive. Sie nennt ihre Wahrheit als Opfer – und das tut sie
künstlerisch hervorragend.
## Schmerz und Schuldgefühle
Das ist eigentlich am erstaunlichsten an diesem Werk: Raye singt über
sexuellen Missbrauch, den Schmerz, die Schuldgefühle und die Nächte, die
sie hungrig schlief, weil sie sich zu sehr hasste, um essen zu können. Aber
sie singt genauso über Selbstermächtigung und über Männer, die sie selbst
verführt, weil sie es will. Sie bezeichnet die Produktion des Albums selbst
als heilsam.
Was wir hören, ist nicht das austherapierte Endprodukt einer emanzipierten
Frau, sondern alle Therapiesitzungen dazwischen: Von dem ersten Suchen nach
Worten für den geschehenen Missbrauch über Selbsthass und Fassungslosigkeit
hin zu Wut, um schließlich, vorsichtig und mit weicherer Stimme, von der
Hoffnung auf neue Liebe zu erzählen.
Dass all diese biografischen Facetten in einem einzigen Album kulminieren,
unterstreicht die Ambivalenz von Heilung und Trauma, die „My 21st Century
Blues“ thematisiert: Nichts ist vergessen und narbenlos verschwunden,
gleichzeitig strotzt diese Musik vor Überlebenswillen und Hoffnung. Schon
die Genese des Albums, um dessen Veröffentlichung die Sängerin lange
kämpfen musste, spiegelt das wider: Das Majorlabel Polydor wollte sie, so
Raye, als „Mädchen, das tanzbare Songs“ produziert und nicht als Frau, die
ein Album mit Songs über sexuellen Missbrauch bei einem Majorlabel
veröffentlicht. Zu Vergewaltigungsvorwürfen tanzt es sich schlechter.
Die Coverillustration, ihre kleine Schwester als junge Raye in zu großen
Schuhen auf einem Berg aus Instrumenten stehend und Männerhänden
ausweichend, erzählt die Geschichte zu Ende: Raye ist nicht mehr dieses
Mädchen. Aber sie trägt es noch in sich.
30 Mar 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Marie-Sofia Trautmann
## TAGS
Pop
Großbritannien
sexueller Missbrauch
Musik
Lesung
Harvey Weinstein
Interview
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