# taz.de -- „Lulu“ in der Berliner Volksbühne: Vamp und Postergirl | |
> Am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin sollte „Lulu“ in der Inszenierung von | |
> Stefan Pucher feministisch gelesen werden. Von Männern. Geht das? | |
Bild: Kann Lulu (Lilith Stangenberg) den Rahmen sprengen? | |
Lulu stirbt schon nach fünf Minuten. In einem riesigen aquariumartigen | |
Rahmen stehen sie gerade erst frisch aufgereiht da, die schrill | |
kostümierten Figuren des Dramas von Frank Wedekind aus den Jahren der | |
vorletzten Jahrhundertwende – der Geschichte einer jungen Frau, die als | |
animalisches, triebgesteuertes Wesen geschildert wird, dem die gesamte | |
männliche Umgebung und sogar eine lesbische Frau, die Gräfin Geschwitz, | |
verfällt. Am Ende kommt der Triebtäter Jack the Ripper und bringt sie um. | |
Und stellt damit die „Ordnung“ der Männerwelt wieder her, die bedroht war | |
durch Lulus ungezügelte Erotik. Obwohl sie ja, paradoxerweise, eine | |
Männerfantasie war. | |
Das also passiert in der Berliner Volksbühne, wo Stefan Pucher nun das | |
Drama inszenierte, schon kurz nach Vorstellungsbeginn. Im Übertötungswahn | |
sticht Jack immer und immer wieder auf Lulu ein. Lilith Stangenberg, die | |
Lulu vom Rosa-Luxemburg-Platz, fällt schließlich gemeuchelt, in einem | |
gekonnten Stunt mit ihren netzbestrumpften Beinen und den High-Heels, die | |
vielen Showtreppen herunter. Dann liegt sie da, unten an der Rampe. Tot. | |
Und das Stück kann beginnen. | |
Denn das berühmte Drama soll diesmal feministisch gelesen werden: Gezeigt | |
werden soll Lulu, die in die Projektionen der Männer eingesperrt ist. | |
Irgendwann spricht Lulu auch selbst davon, hoch oben im weißen Rahmen, | |
dessen Ränder sich nach vorne und hinten ausfahren lassen und so immer neue | |
(Vexier-)Bilder ergeben: von dem Rahmen der Männerfantasien und von der | |
Angst der Männer, sie, Lulu, könne aus diesem Rahmen heraustreten. Und | |
genau das hat sich der Abend vorgenommen, Lulu hier heraustreten zu lassen. | |
Das allerdings erfordert erst einmal eine umständliche Entschuldigung im | |
Programmheft – denn die, die das bewerkstelligen wollen, sind selbst lauter | |
Männer: ein Intendant, ein Regisseur und ein Dramaturg. Dann wäre da auch | |
noch der Autor, der zwar tot, aber ebenfalls ein Mann ist. Und so gibt es | |
also eine Programmhefterklärung, dass man sich dieses | |
Repräsentationsproblems sehr bewusst sei. Das Theater wird als eine Kultur | |
von Männern entworfen, für Männer und von Männern gepflegt. Und so kommt es | |
dann auch. | |
## Lulu als Vamp, Lulu als weiße Frau mit King-Kong | |
Die lasziven Frauenbilder wuchern auf der spektakulären Bühne von Barbara | |
Ehnes, live und im Wesentlichen in Person der fabelhaften Lilith | |
Stangenberg, die (unterstützt von der nicht minder fabelhaften | |
Kostümbildnerin Annabelle Witt) in immer neue Frauenbilder schlüpft: mit | |
assoziativen Anklängen an Postergirls der Film- und Popgeschichte von | |
Louise Brooks bis Marianne Faithfull. Stangenberg singt und tanzt, stets | |
ein bisschen gestelzt und puppenhaft, was den Eindruck des Gemachtseins | |
dieser Bilder unterstreicht, während man noch einen Restwiderstand gegen | |
die angestrebte Hochglanzoberfläche des Abends spürt. | |
Zunächst wird rudimentär auch noch das berühmte Stück gespielt: die | |
Geschichte des gesellschaftlichen Aufstiegs der flatterhaften Lulu, die von | |
einem reichen Mann auf der Straße aufgelesen, pygmalionhaft erzogen und zur | |
Geliebten gemacht, aber dann an diverse Männer verheiratet wird, die sie in | |
den Wahnsinn treibt. | |
Während auf der Bühne die Dinge ihren Lauf nehmen, sehen wir Lilith | |
Stangenberg überlebensgroß auch in Videos, mal im hollywoodhaften | |
1930-er-Schwarz-Weiß, mal im Technicolor-Format: Lulu als Vamp, Lulu als | |
weiße Frau mit King-Kong, was dann auch zur Radikalfeministin Virginie | |
Despentes passt, aus deren King-Kong-Theorie irgendwann zitiert wird. Auch | |
ein kurzes Stück aus Despentes’ Bestseller „Vernon Subutex“ kommt vor, (… | |
Pucher im März an den Münchner Kammerspielen inszenierte). Valerie Solanas | |
darf im gendertheoretischen Potpourri natürlich auch nicht fehlen. Da sind | |
wir dann auch schon mitten drin in der Zersplitterung der Originalstory | |
durch feministische und andere Texteinschübe zwecks | |
Diskursrahmenverschiebung. | |
## Schrecklich kalkuliert | |
Dazu gibt es live einen tollen post-punkigen Soundtrack von Christopher | |
Uhe, der die Stimmung steuert. Manchmal wird aus dem Orchestergraben die | |
Sängerin Réka Csiszér hochgefahren, die dann (gemeinsam mit Sarah Maria | |
Sander) in kühl temperierter und lasziv angeswingter Jazztonlage singt. | |
Lilith Stangenberg tanzt und singt natürlich auch. | |
Das alles sorgt an diesem durchgestylten Abend für eine süffige und | |
glamouröse Grundstimmung, der man sich gerne ausliefern würde. Wäre eben | |
das alles nicht so schrecklich kalkuliert, auf Wirkung und Bedeutung | |
gebürstet – die sich dann nicht mal recht einstellt. Am Ende die Wende: Der | |
Rahmen dreht sich, Lulu steigt aus und flieht gemeinsam mit der Geschwitz | |
(Sandra Gerling) aus dem Männerhort Volksbühne ins Freie. Zuvor werden mit | |
viel Geballer alle Männer der Produktion abgeknallt. Stefan Pucher tauchte | |
dann aber höflich lächelnd doch zum Schlussapplaus auf. | |
3 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Esther Slevogt | |
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