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# taz.de -- Integrativer Tanz: Wieder ein Tabu weniger
> Als vorerst letzte Kunstsparte öffnet sich langsam auch der Tanz
> behinderten Akteuren. Die Qualitäten und Probleme dieses "Dancing with
> Differences" waren bei der Erstausgabe des integrativen Tanzfestivals
> "eigenARTig" in Bremen zu erleben.
Bild: Erst durch schlechte Kritik am Ziel: Die Rollstuhltänzer wollen weg von …
Marion Kohlheim ist bei jeder Aufführung dabei, zusammen mit ihrem Hund.
Der trägt ein Schild auf dem Rücken: "Nicht streicheln, ich arbeite". Das
ist etwas übertrieben, denn jetzt wird eigentlich und vor allem auf der
Bühne gearbeitet und zwar schweißtreibend. Die Tänzer von "Stopgap" wirbeln
wild über die Bühne des Bremer Schauspielhauses, manche auf Rädern.
Schließlich hat gerade "eigenARTig" begonnen, die Erstausgabe eines künftig
biennal geplanten Festivals für integrativen Tanz.
Für die blinde Frau ist die "Stopgap"-Produktion ein Hochgenuss. Der
akustische Output der britischen Performer mit und ohne Down-Syndrom setzt
sich in ihrem Kopf zu Bildern zusammen, sagt sie, einzelne Szenarien lässt
sie sich flüsternd soufflieren. Auch Sehende kommen auf ihre Kosten: Bei
"Stopgap" entstehen poetische Liebesszenen ebenso wie Tarantino-Theater -
Lackleder, Flamenco-Klamauk und Lustmord inklusive. Wer derart nonchalant -
und gekonnt - Trash produziert, hat schon eine gewisse Wegstrecke hinter
sich.
In der Tat gehört "Stopgap" mit 14 Jahren zu den ältesten und
adoleszentesten Kompanien der integrativen Szene, die insgesamt noch
ziemlich jung ist. "Wir sind erst am Ziel, wenn wir auch schlechte Kritiken
bekommen", sagt die auf Rädern tanzende Laura Jones - erst dann sei sicher,
dass man allein nach künstlerischen Kriterien beurteilt werde. Das
publizistische Gegenmodell, die vorwiegend deskriptive Schulterklopf-Kritik
mit Mitleids-Bonus, wird in den Staaten derzeit unter dem Stichwort "Victim
Arts" diskutiert.
Integrativer Tanz ist also beileibe kein Kind der experimentierfreudigen
70er, wie man vermuten könnte. Die Pionierarbeit in Deutschland hat
größtenteils Gerda König übernommen, die aus dem Rollstuhl heraus
choreografiert: 1995 gründete sie in Köln die Kompanie "DIN A 13",
mittlerweile ist sie häufig in Afrika unterwegs. In Ghana entwickelte sie
mit der dortigen "Dance Factory" die Produktion "Patterns beyond traces" -
ein extrem kraftvolles Stück, getanzt von Zwei- und Einbeinern, das neben
ruhigen archaischen Ritualen auch auf Konfrontation setzt: Wenn Eric Lartey
den Beinstummel zucken lässt und Mark Nii Lomo Lomotey sein lahmes
Gliedmass in die Luft schleudert, gewinnt das "Dancing with Differences"
eindrückliche Facetten hinzu.
Warum war all das ausgerechnet in Bremen zu erleben? Mit dem
"Blaumeier"-Atelier, hervorgegangen aus der Auflösung einer
Langzeitpsychiatrie, sind integratives Theater und entsprechende
Kunstprojekte schon lange Teil des städtischen Kulturlebens. In Sachen Tanz
hat diese Entwicklung erst begonnen, ist aber hoffnungsvoll: Immerhin gibt
es unter dem Label "Die Anderen" bereits zwei intensiv arbeitende Kinder-
und Jugendkompanien. Sie haben jeweils 18 Mitglieder - und ein
Integrationsproblem lediglich in Hinblick auf die Genderfrage.
Soweit wie in Großbritannien, wo sich Gruppen wie "Stopgap" als
professionelle Kompanien mit Unterstützung des National Arts Council
finanzieren können, ist man in Deutschland freilich noch lange nicht.
Ausbildungschancen gibt es erst in Ansätzen: An der Ulmer
Schauspiel-Akademie oder an der Fachhochschule Osnabrück, wo Tamara McCall
kürzlich eine Professur für Musik und Tanz übernahm. "In unseren Lehrplänen
ist die enge Zusammenarbeit mit Behinderteneinrichtungen jetzt fester
Bestandteil", erklärt McCall, die selbst in der Hamburger mixed abled
Company "Handicapache" performt.
Das Bremer Festival, kuratiert von Corinna Mindt und Günther Grollitsch,
leistete einen bemerkenswert breit gefassten Überblick über die
unterschiedlichen Ästhetiken der integrativen Tanzszene. Die Bremer selbst
orientieren sich in ihrer Produktion "Hüben" eher an einem tanztheatralen
Zugang mit konkretem Inhalt: 20 Jahre Mauerfall. Das gab Gelegenheit zu
einer wunderbar choreografierten Variante des sozialistischen Bruderkusses
und zur Übersetzung der FDJ-Hymne in die Gebärdensprache.
Marion Kohlheim kann Tanz im Übrigen nicht nur hören, sondern auch fühlen.
Beim "Tanztasten", einer Erfindung des Bremer Festivals, haben Blinde die
Möglichkeit, ganze Bewegungssequenzen haptisch zu erfassen. Taster wie
Tänzer scheinen davon gleichermaßen berührt: "Bei unserem nächsten Stück
soll auf jeden Fall eine Blinde dabei sein", sagt Frank Sam von der
ghanaischen "Dance Factory".
7 Oct 2009
## AUTOREN
Henning Bleyl
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