# taz.de -- Digitales Theatertreffen Berlin: Mit der Asche ihrer Mutter | |
> In digitaler Form ist das Berliner Theatertreffen eine Herausforderung | |
> für alle Beteiligten. Das Kollektiv Gob Squad stellte sich dieser | |
> gekonnt. | |
Bild: So sieht sie aus, die gute Zeit: „Show me a good time“ von Gob Squad | |
Ein Mann und eine Axt: Wer von beiden das Geschehen bestimmt, ist nicht | |
ganz klar in „Graf Öderland“ von Max Frisch, einem Theaterstück voller | |
Fallen. Selten wird es aufgeführt, kein Wunder, denn Axtmörder sind die | |
Protagonisten. Der erste Mörder ist ein Bankangestellter, immer brav, | |
unpolitisch, ohne Ehrgeiz, arbeitsam, der eines Nachts den Hausmeister | |
erschlägt. Warum? Amoklauf oder Aufstand? Dass kein Warum erkennbar ist, | |
bringt den Staatsanwalt Martin erst um den Schlaf und dann um sein ganzes | |
Koordinatensystem von Recht, Ordnung, Vernunft, Ethik. Er wird zum zweiten | |
Mörder mit der Axt, dem sich bald ein Heer finsterer Gestalten anschließt. | |
„Graf Öderland“, inszeniert von Stefan Bachmann, ist eine der zehn | |
Inszenierungen, die für das Theatertreffen dieses Jahr von einer | |
Kritikerjury ausgewählt wurden. Weil Theater live pandemiebedingt in | |
Deutschland noch nicht wieder möglich ist, läuft das Festival seit dem | |
vergangenen Donnerstag online, in einem eng gestrickten Zeitplan, ab | |
nachmittags Diskussionen zum Kontext des Theaterbetriebs, eine | |
Retrospektive zum Living Theatre, abends die 10er-Auswahl, live gestreamt | |
oder als Fernsehaufzeichnung. „Graf Öderland“ kam als Aufzeichnung von | |
3sat/ZDF. | |
Bachmanns Inszenierung ist von einem starken Sog. Ob Freiheitsdurst oder | |
Blutrausch die Gefolgschaft von Martin/Graf Öderland antreibt, ist nie ganz | |
klar – und eben das ist das Beunruhigende. Generäle und Minister zittern | |
vor ihr. Thiemo Strutzenberger spielt den „Grafen“ mit Schwermut und einer | |
Traurigkeit, als müsse er all das Grausame wider Willen tun. Ein großer | |
Trichter beherrscht die Bühne (Olaf Altmann), er fokussiert die Blicke, er | |
lässt die Spielenden alle über seine Wände nach unten gleiten, einen | |
anderen Weg gibt es nicht. Die Kameraarbeit der Aufzeichnung verstärkt die | |
Fokussierung mit Nahaufnahmen, sie nimmt dem Zuschauer die Anstrengung ab, | |
sich zu orientieren. Das ist nicht immer von Vorteil, Bequemlichkeit kann | |
die Aufmerksamkeit auch mindern. | |
Formal spielt diese Inszenierung eine Moritat mit expressionistischen | |
Zitaten und grotesken Zuspitzungen. Musiker, die unten am Bühnenrand live | |
spielen, schaffen ein Kontinuum, das über die verrückten Sprünge in der | |
Handlung hinweghilft. Schwups sind wir im Untergrund, in der Kanalisation | |
unter der Stadt, die womöglich von hier aus gesprengt wird. | |
Der „Graf“ hofft am Ende, dass er das alles nur geträumt hat, aber seine | |
Mitspielenden gestehen ihm ein Erwachen nicht zu. Das Stück fesselt, | |
solange es läuft, ein wenig fassungslos starrt man auf diesen ästhetisch | |
wohlgefassten Vorläufer von Splatter; aber ist es vorbei, schüttelt man | |
sich und denkt, nanu, was war das denn? | |
Bekenntnis zum Theater | |
Theatertreffen in der Zeit der Pandemie: Natürlich war die Auswahl, die von | |
der Jury gesehen werden konnte, kleiner als in einem anderen | |
Produktionsjahr, vieles musste ausfallen oder wurde verschoben. Am | |
[1][Festival dennoch festzuhalten] aber ist nicht nur als Respektbezeugung | |
vor dem gedacht, was den widrigen Bedingungen zum Trotz entstand, sondern | |
auch als Ermutigung und Bekenntnis: zum Glauben an die Kunstform Theater | |
und auch an ihre Kraft, mit Krisen kreativ umzugehen. | |
Wie das gelingen kann, zeigte in der ersten Hälfte das Kollektiv Gob Squad | |
mit „Show me a good time“, eine Produktion vom HAU in Berlin und fünf | |
weiteren internationalen Theaterhäusern. Für 12 Stunden wurde „Show me a | |
good time“ live gestreamt aus dem Haus der Berliner Festspiele, wo stets | |
ein einsamer Performer auf der Bühne gegen den leeren Zuschauerraum | |
ankämpfte, unterstützt und wie von Planeten umkreist von den weiteren | |
Mitspielern, zugeschaltet über Zoom. | |
Man kann beim Zuschauen am Computerbildschirm bügeln oder essen, Pausen | |
nehmen wie gebraucht und wird doch stets bei der Rückkehr in ihren Welten | |
gezogen. Im Viertelstundentakt beziehen kleine Übungen den Zuschauenden | |
ein, gemeinsam lachen etwa, „fake it till you make it“, einen Titel finden | |
für die nächste Performance, Gestorbener gedenken. | |
Der Moment wird betont, die gemeinsame Gegenwart, „this is live“ ist die | |
ständige Beschwörung. Teils schauen wir in die Wohnungen der | |
Performerinnen, Sarah Thom stellt uns ihren Hund vor und die Asche ihrer | |
verstorbenen Mutter, die sie in einer Urne stets dabei hat. Sharon Smith in | |
Südengland steuert feministische Geschichte bei und kocht für ihr Kind. | |
Sean Patten kreuzt mit dem Auto durch das verregnete Berlin, besucht | |
Denkmäler trauernder Mütter. Simon Will treibt sich am Berliner | |
Stadtschloss und am menschenleeren BER herum, bestaunt, wie | |
Zukunftsvisionen in Berlin aussehen. Berit Stumpf läuft durch die Gegend um | |
das Festspielhaus und sucht die, die jetzt eben nicht im Theater sein | |
können, findet aber erst mal nur Gedenktafeln. Es geht sehr oft und mit | |
viel Mitgefühl um die Toten. | |
Hochkultur und Alltag | |
Das Erstaunliche ist, wie sich aus dem Zufälligen und dem Alltäglichen | |
ständig kleine Partikel lösen und in einen größeren, schon ziemlich | |
philosophischen Kontext eingewoben werden. Verbindungslinien in die | |
Vergangenheit werden gelegt, in die Geschichte des Theaters, konkret auch | |
des Hauses der Berliner Festspiele, zurzeit in Sanierung, gebaut 1963 als | |
„Theater der Freien Volksbühne“, das aus einer demokratischen Idee | |
hervorging, größere Teilhabe an der Kultur zu ermöglichen. Für Gob Squad, | |
die seit über 20 Jahren die Formen von Hochkultur und Repräsentation mit | |
Alltagsformaten unterwandern, ist das eine Steilvorlage. | |
Zu jeder vollen Stunde hat einer der Satelliten, die auf Berlins Straßen | |
unterwegs sind, die Aufgabe, einen Zuschauer zu finden, der der einsamen | |
Performerin im Festspielhaus via Smartphone zuschaut, denn etwas Resonanz | |
brauchen sie doch, wie die Luft zum Atmen. Ein junges Mädchen, selber beim | |
Ballett, schaut ziemlich fassungslos dem routinierten Dilettantismus zu, | |
mit dem Berit Stumpf sich ausdruckstänzerisch bemüht, „the space between | |
us“ zu performen. | |
Andere bevorzugen Comedians oder Musicals oder gar kein Theater, reagieren | |
aber freundlich auf die direkte Ansprache der Performer. Gob Squad lässt | |
die unterschiedlichsten Erwartungen an das Theater hart aufeinanderprallen, | |
verteidigt dabei noch einmal den eigenen postdramatischen Ansatz: Und | |
tatsächlich erweist er sich als äußerst offen und leistungsfähig für die | |
Reflexion dessen, was gerade geschieht, mit dem Leben, mit den Künsten, mit | |
der Teilhabe. Und vieles davon sieht nicht gut aus. | |
Das Theatertreffen hat sich 2019 eine Frauenquote von 50 Prozent gesetzt, | |
dieses Jahr kommen sechs der zehn ausgewählten Inszenierungen von | |
Regisseurinnen. Dazu gehört eine [2][„Maria Stuart“, von Anne Lenk] am | |
Deutschen Theater in Berlin inszeniert mit einer Maria Stuart, die mit | |
Schalkhaftigkeit und Witz die Strategien ihrer Umwelt zwar durchschaut, | |
aber deren Ränken dann doch unterlegen ist. | |
Auswahl von 3Sat | |
Ebenso wie „Maria Stuart“ und „Graf Öderland“ gehört auch „Automate… | |
zu den Aufzeichnungen, die 3sat als „Starke Stücke“ ausgewählt hat. Die | |
Inszenierung von Barbara Frey hatte am Akademietheater Wien im letzten | |
Oktober Premiere, als kurzzeitig wieder gespielt werden durfte. | |
„Automatenbüffet“ stammt von der fast vergessenen Autorin Anna Gmeyner, in | |
den 1930er Jahren Teil der Theateravantgarde in Berlin. Kurz nach der | |
Uraufführung 1932 musste sie vor den Nationalsozialisten fliehen. | |
Freys Inszenierung hat etwas Einnehmendes und Liebenswürdiges. Am Anfang | |
rettet Adam (Michael Maertens) Eva (Katharina Lorenz) aus dem Wasser, am | |
Ende rettet sie ihn aus dem gleichen Wasser, in dem nun er sich ertränken | |
wollte. Konkret geht es dabei um Anglerteiche, an die Adam anfangs ein | |
großes Projekt und seinen Lebensmut knüpft. Mit Fischzucht erst der | |
Ernährung der kleinen Stadt aufhelfen, bis zum weltweiten Handel und | |
Aufschwung aller geht sein Traum. Eva soll ihm dabei helfen, ihre | |
weiblichen Reize zur Überzeugung der Honoratioren der Stadt einsetzen. | |
Man mag diesen Adam, obwohl er Prostitution als Mittel der Bestechung | |
nutzt. Man mag diese Eva, obwohl es zweifelhaft ist, wie sie sein Projekt | |
zu ihrem macht. Man mag auch Adams Frau, Besitzerin des Automatenbüffets | |
(Maria Happel), allzu verständlich ist ihr schräger Blick auf Eva. Dass man | |
gerne jedem dieser traurigen Gestalten zugestehen würde, etwas Besseres zu | |
bekommen, schafft Verbindung. Aber am Ende konsumiert sich das, zumal am | |
Bildschirm, doch auch sehr einfach weg. | |
18 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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