# taz.de -- Open-Air-Premiere am Deutschen Theater: Die Narren dürfen wieder | |
> Am Samstag feierte „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ Premiere am | |
> Deutschen Theater. Live und Open Air – aber auch kühl und feucht war es. | |
Bild: Am Hof von Orgon, in einer inszenierung von Jan Bosse, frei nach Molière | |
Das fühlt sich jetzt schon etwas bescheiden an. Mit FFP2-Maske, Mütze, | |
Regenjacke, Wolldecke über den Knien und Regenschirm über der Wolldecke bei | |
leichtem Niesel und 14 Grad auf einem Stühlchen im Freien zu hocken, um | |
durch die beschlagenen Brillengläser „endlich wieder Theater live zu | |
erleben“. Das Publikum hat sich seiner Freude darüber gegenseitig | |
vergewissert, 130 Menschen nur durften kommen zur ersten | |
[1][Open-Air-Premiere des Deutschen Theaters] am Beginn der Lockerungen. | |
Der Intendant Ulrich Khuon hat gesprochen und erzählt, wie das Haus diesem | |
Moment entgegengefiebert und weitergearbeitet habe, damit man gleich, als | |
es wieder möglich ist, starten kann, auf dem Platz vor dem Haus. Auch innen | |
toben, ohne Publikum, so grotesk ist das gerade, Schauspieler über die | |
Bühne, für einen [2][Livestream, „Der Zauberberg“], der an diesem Abend | |
[3][beim Theatertreffen digital] läuft. Das klingt alles nach unheilbarer | |
Theaterleidenschaft. | |
Schon purzeln mit viel Lärm aus Türen und Fenstern die Schauspieler:innen, | |
der kühle Wind zerrt an ihren ausladenden Kopfbedeckungen. „Tartuffe oder | |
das Schwein der Weisen“ steht auf dem Spielplan, Jan Bosse hat [4][den Text | |
von PeterLicht] frei nach Molière inszeniert. Auftritt Herr Frau Pernelle | |
(Regine Zimmermann), die auf einem Fahrrad aus dem Portal herausradelt. Und | |
im sich bald entspannenden Wortgefecht mit Blick auf das Publikum mehrmals | |
feststellt, wie „ungeil das hier alles ist“. | |
Man fühlt sich angesprochen und ertappt, sehr geil wird so eine Masken-, | |
Kapuzen-, Wolldecken- und Schirmbewehrte Zuschauergemeinde für die | |
Spielenden nicht aussehen. Obwohl man weiß, das gehört zum Stück, in dem | |
Orgon (Felix Goeser), „dem das alles hier gehört“, Tochter, Frau und | |
weitere Verwandtschaft damit aufschreckt, in ihre Gemeinschaft einen Neuen | |
einzuschleppen: Tartuffe, der sie alle aus der Welt des Ungeilen befreien | |
soll. Noch wollen sie nicht. | |
## Frei nach Molière, mit Texten von PeterLicht | |
PeterLichts Text dreht irrsinnige Schlaufen, immer nahe am Nonsens, die | |
sich dann doch um einige ideologische Konstruktionen drehen und dran | |
zerren. Nicht Frömmelei und Heuchelei sind bei ihm, wie es bei Molière war, | |
die Fehler im System, sondern Selbstoptimierungswahn, Anpassung in der | |
Peergroup und Hedonismus als Feiheitsversprechen. Dabei nutzt er eine | |
Sprache, die scheinbar hip ist, durchsetzt von werbenden Floskeln, frei von | |
Nuancen. | |
Oder auch eine Sprache, die akademisch strapazierte Begriffe umdeutet: Als | |
der „Tüffi“ (Božidar Kocevski) nach mehr als der Hälfte des Stücks endl… | |
im schweinchenrosa Anzug auftaucht und erst mal nur grunzt, geht es darum, | |
dass er die Frauen, Orgons Tochter Marianne (Kotbong Yang) und dessen Frau | |
Elmire (Natali Seelig), „kontextualisieren“ möchte. Was so aussieht: sie | |
tanzen zu südamerikanischen Trommelrhythmen, bis ihre Nase seinen Arsch | |
berührt. | |
PeterLichts Text ist so auch eine Sprachpersiflage von einer einerseits | |
verkürzenden und andererseits hochgestochenen Sprache, die in beiden Fällen | |
große Chancen hat, tüchtig neben die Realität zu greifen, vieles | |
auszulassen und blinde Flecken zu erzeugen. | |
## Unter dem Motto „Penis als Chance“ | |
Die Dialoge treten dabei oft verzweifelt auf der Stelle, doch das macht | |
nichts. Denn je weniger die Figuren sich verstehen, umso aktionsreicher | |
wird ihr Spiel. Orgon ist nicht zufällig mit einer Narrenkappe | |
ausgestattet. Wie überhaupt die Kostüme, von Kathrin Platz entworfen, einen | |
wilden Mix der Zeichen aussenden, quer durch die Theatergeschichte bis zum | |
Barock von Molières Zeiten. | |
Der Wind spielte am Premierenabend keine unwesentliche Rolle, als wolle er | |
bekräftigen, he, das ist jetzt echt. Er ließ die langen weißen Tischdecken | |
auf den Stehtischen flattern, unter denen sich irgendwann Orgon und seine | |
Gefolgschaft versteckt haben, weil sie dem Tüffi doch nicht ganz trauen bei | |
seinem Workshop mit Elmire unter dem Motto „Penis als Chance“. Doch als sie | |
seinen Betrug aufzudecken meinen, verkauft er den als Konzept seines | |
Workshops und lässt sie alle zahlen. | |
Die Energie und der Körpereinsatz des Ensembles sind groß an diesem | |
Premierenabend, ein bisschen Zirkus mit viel Musik; kein Kalauer wird | |
ausgelassen, und Jan Bosse, der Regisseur, lässt den Sprachwitz gerne von | |
gestischen Übertreibungen untermalen. Die Energiekurve des langsam | |
frierenden Publikums hingegen sinkt, tiefer und tiefer rutschen wir in | |
unsere Kapuzen. Am Ende erleichterter Applaus. Resümee: [5][erste Premiere | |
live 2021] gut überstanden. | |
24 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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