| # taz.de -- Volksbühne digital: Ein Stück zur Zeit | |
| > Ein Kassandragesang über den Klimawandel sollte das Stück „Forecast“ von | |
| > Ari Benjamin Meyers werden. Jetzt ist es an der Volksbühne digital zu | |
| > sehen. | |
| Bild: Still aus den Kurzfilmen zu „Forecast“, Prolog 4, von Ari Benjamin Me… | |
| Ari Benjamin Meyers beschäftigt sich mit Prognosen. Seit 2016 schon | |
| arbeitet der Komponist an seinem Stück „Forecast“. Darin geht es um | |
| Wettervorhersagen und die Entwicklung der Technologien, die immer präzisere | |
| Prognosen ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen allerdings Katastrophen – und | |
| die Fähigkeit, das Eintreffen solcher Zustände vorauszusehen und | |
| günstigenfalls sogar so viel Zeit zu haben, die Dinge so zu ändern, dass | |
| die Katastrophe vermieden werden kann. | |
| „Forecast“, ein szenisches Konzert für sieben Musiker*innen und zwei | |
| Schauspielerinnen, ist damit ein veritabler Kassandragesang über den | |
| Klimawandel. Durch die Katastrophenthematik und die eigene, komplizierte | |
| Produktionsphase in den vergangenen 14 Monaten wurde es auch noch zu einem | |
| Reflektionsstück über die Pandemie. So, wie der Frosch auf der Leiter den | |
| frühen Wetterforschern Hinweise über Luftdruckveränderungen gab, taugt die | |
| Produktionsgeschichte von „Forecast“ als Erkenntnisanordnung für die | |
| Auswirkung der Pandemie auf den Kulturbetrieb. | |
| Ursprünglich sollte „Forecast“ im April letzten Jahres an der Volksbühne | |
| herauskommen, wurde dann aber verschoben, vertagt, vor einem Minipublikum | |
| aufgeführt und droht, wegen des Programm- und Intendantenwechsels, so gut | |
| wie ungesehen von der Bildfläche zu verschwinden. Eine digitale Fassung des | |
| Werks in Form von fünf Kurzfilmen wird ab 25. Mai von der Website der | |
| Volksbühne gestreamt. | |
| Rückblende: Am 10. März 2020 trafen sich Meyers und der Autor dieses Textes | |
| zu einem Vorgespräch. Die Proben zu „Forecast“ sollten an diesem Tag | |
| beginnen. Ein Hauch des Surrealen, Präkatastrophischen lag bereits in der | |
| Luft. Die Volksbühne war an jenem Vormittag so leer, wie Kulturstätten, die | |
| für den Abend eingerichtet sind, sich am hellichten Tage gewöhnlich | |
| präsentieren. Auch Corona war gerade in Deutschland angekommen. „Die | |
| Schließung der Theater deutete sich bereits an. Am Abend nach unserem | |
| Gespräch fiel dann die Entscheidung“, erinnert sich Meyers ein Jahr später. | |
| Proben abgesagt | |
| Die geplanten Proben wurden erst einmal abgesagt und alle nach Hause | |
| geschickt. Komponist Meyers, über die jahrelange Beschäftigung mit | |
| Wetterunbilden zum Prognosespezialisten gereift, traf dann eine | |
| Entscheidung, die ihm damals schlau dünkte. „Ich ahnte, dass alles eine | |
| Zeit dauern würde, und schlug vor, die Produktion gleich um ein ganzes Jahr | |
| zu verschieben.“ Meyers hoffte, dass dann der normale Spielbetrieb wieder | |
| möglich sei. „Die Volksbühne schlug November vor. Ich dachte aber, dass es | |
| klug sei, noch länger zu warten“, sagt Meyers. | |
| Es kam, wie wir inzwischen wissen, alles anders. Nach kurzen | |
| Lockerungsfenstern waren auch im März 2021 die Theaterhäuser wieder zu. | |
| Meyers und sein Ensemble immerhin durften in der Zwischenzeit proben. „Es | |
| war wie ein Geschenk, jeden Tag eine Probe haben zu dürfen“, erinnert er | |
| sich an diese Zeit. Sie war sogar von Luxus geprägt. „Zweieinhalb Wochen | |
| durften wir auf die Große Bühne. Das gibt es im Repertoirebetrieb ja sonst | |
| so gut wie niemals“, betont er. | |
| Die Hoffnung, irgendwann im späten Frühling oder ganz frühen Sommer | |
| aufzutreten, war damals auch noch vorhanden. Weiter in die Zukunft reichen | |
| konnte die Hoffnung nicht. Denn im Sommer steht in der Volksbühne der | |
| Intendantenwechsel an, und der neue Chef René Pollesch will nichts, aber | |
| auch gar nichts aus der Zwischenphase nach dem Ende der Ära Castorf | |
| übernehmen. Nicht einmal eine Produktion, die von einem freien Künstler | |
| ist, der mit den alten Verstrickungen am Haus so gut wie gar nichts zu tun | |
| hat und thematisch wie ästhetisch so perfekt in unsere seltsame Gegenwart | |
| passt. | |
| „Forecast“ wurde also ins große Nichts hineinproduziert. Immerhin gab es | |
| Ende April so etwas Seltsames wie eine Mischung aus Generalprobe, Workshop | |
| und Showcase. „Der Senat erlaubte uns, ein Publikum von 18 Fachbesuchern | |
| einzuladen. Es waren nur 18, aber es war berührend, wieder ein Publikum zu | |
| haben“, erzählte Meyers am Tag danach. | |
| Stürme der Gesellschaft | |
| Die 18 Zuschauer, mit großen Abständen verteilt auf den ersten drei Reihen | |
| des 800 Menschen fassenden Saals, sahen, wie auf der Bühne erst von vielen | |
| fleißigen Händen ein Haus gebaut wurde, das später Stürmen trotzen musste. | |
| Den Stürmen der Meteorologen, aber auch den Stürmen der Gesellschaft. Die | |
| Schauspielerin Johanna Bantzer webte in apokalyptische Wetterbeschreibungen | |
| die Geschichte des 60-jährigen Bürgerrechtsanwalts David Buckel ein. Der | |
| zündete sich im April 2018 in New York selbst an, um gegen die Ursachen der | |
| Klimakrise zu protestieren. | |
| Dieser moderne Kassandragesang wurde befeuert, getrieben, untermalt, | |
| verstärkt und gebrochen durch die Klänge eines ganz ungewöhnlichen | |
| Orchesters. Es bestand aus Blockflöte, Harfe und Horn als historisch sehr | |
| alten Instrumenten, der barocken Viola da Gamba sowie E-Gitarre und E-Bass | |
| als Klangerzeugern der elektrifizierten Moderne. Die Musiker*innen | |
| waren erst im Halbkreis arrangiert. Sie verteilten sich dann einzeln auf | |
| der Drehbühne, die sich ganz langsam um das von Donnerleuchten erhellte | |
| Haus bewegte. Man glaubte, die Zeit ganz physisch durch den Raum fließen zu | |
| sehen. | |
| Am Stücktext, auch an der Musik, veränderte Meyers während des langen, | |
| immer wieder unterbrochenen Produktionsprozesses während der Pandemie kaum | |
| ein Wort, kaum ein Satzzeichen, kaum eine Note. Er kam nicht einmal in | |
| Versuchung, das Stück auf die sich wandelnden Zeiten anzupassen. Denn die | |
| Zeiten selbst veränderten das Stück. „Die Texte haben eine neue Bedeutung | |
| erfahren, weil die Welt ringsum sich verändert hat. Der Klimawandel ist | |
| schneller vorangeschritten als noch 2016 gedacht, als ich das Projekt | |
| begonnen habe. Corona hat es zusätzlich mit neuen Bedeutungsschichten | |
| aufgeladen“, konstatiert Meyers. | |
| Dass es vorerst unsichtbar bleibt, zumindest nicht auf den Spielplan der | |
| Volksbühne kommt, verstärkt die Symbolkraft nur noch. Jetzt hofft Meyers, | |
| dass andere Spielstätten und Festivalbetreiber die Produktion einladen. Es | |
| wäre ein Happy End für ein Werk, das das Katastrophische, aber auch das | |
| Überwinden der Katastrophe in sich trägt wie kaum ein anderes. | |
| 24 May 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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