# taz.de -- Ausstellung von Ari Benjamin Meyers: Aus dem Äther in den Takt | |
> Ari Benjamin Meyers ist Komponist und Künstler. In der Kunsthalle Mainz | |
> verwandelt er Elemente klassischer Musik in Momente sozialer Zeichen. | |
Bild: Ein von Ari Benjamin Meyers manipulierter Flügel „The New Empirical“… | |
Anfassen darf man die Metallplatten zwar, doch folgt rasch der Warnhinweis | |
einer Aufsicht: „Sie müssen sich danach aber die Hände waschen!“ Ari | |
Benjamin Meyers ist in der Kunsthalle Mainz zu Gast und hat ihr | |
vorübergehend eine Bleiwüste in den Boden gesetzt. | |
Tonnenschwer erscheint die Musikgeschichte dem Komponisten und Künstler | |
bisweilen, hier liegt sie dem Ausstellungspublikum zu Füßen – in Gestalt | |
von 2.500 Metallgravurplatten aus dem Archiv von Schott Music, dem | |
berühmten Musikverlag, der seit 1770 im rheinland-pfälzischen Mainz | |
angesiedelt ist. | |
Generationen an Klavierschülerinnen oder Gesangsstudenten sind mit den | |
gedruckten Partituren von Schott sozialisiert. Auch Meyers, 1972 in New | |
York geboren und seit Langem in Berlin zu Hause. Ab seinem vierten | |
Lebensjahr lernte er Klavier, später studierte er Komposition und arbeitete | |
als Operndirigent. Irgendwann kam die bildende Kunst hinzu. Seitdem | |
[1][arbeitet Ari Benjamin Meyers zwischen oder eher mit beiden Systemen], | |
die keineswegs so ohne Weiteres kompatibel sind. | |
Meyers Soloschau „Always Rehearsing Never Performing“ umfasst nun zum einen | |
Gelegenheiten, mit anderen gemeinsam zu singen oder zuzuhören – zum | |
Beispiel in einem eigens initiierten Chor, der über die gesamte | |
Ausstellungsdauer regelmäßig proben wird. Zum anderen zeigt die Schau | |
Versuchsanordnungen, die skulpturalen, grafischen oder installativen | |
Spezifika des Komponierens, Probens und Musikmachens begreiflich zu machen. | |
Metallplatten als Partituren | |
Um Elemente der Musik, die entgegen landläufiger Vorstellung überhaupt | |
nicht ephemer sind, geht es Meyers in seiner Installation „Heavy Metal“. | |
Dem Bleiplattenboden gegenübergestellt ist eine aktualisierte Partitur des | |
Künstlers: Metallplatten, die Meyers mit allerlei Werkzeug „wie beim | |
Zahnarzt“ grob durchlöchert und malträtiert hat. | |
Schon ergeben sich ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie diese | |
Kompositionen wohl klingen mögen – die tatsächliche musikalische | |
Interpretation, doch auch das Herstellern jener metallenen Notenblätter. | |
Damit ist man schon bei einer Kernfrage angelangt, um die der Künstler, | |
Musiker, Dirigent kreist: Welche Partituren, welche Lieder denn überhaupt | |
möglich sind. Und hiervon hinausgehend wohl, wie die Ideen überhaupt in die | |
materielle Welt kommen. | |
Nur auf den oberflächlichen Blick erscheinen Ari Benjamin Meyers | |
Ausstellungen wie kühle White-Cube-Ware. Tatsächlich versteckt sich in | |
jedem Werk mindestens ein Scharnier, das direkt ans menschliche Publikum | |
anknüpft – gedanklich allemal, oft aber auch ganz praktisch. | |
Meyers Arbeiten werden auf der ganzen Welt aufgeführt, wodurch sie aus den | |
sozial angelegten Interaktionen oder „Aktivierungen“, wie der Künstler sie | |
nennt, höchst orts- wie zugleich zeitgeistspezifische Situationen ergeben. | |
Wie das Duett, eine Anleitung zum gemeinsamen Singen, die hier im White | |
Cube und sonst auch schon auf der Straße aufgeführt wird. | |
Fast gewaltvolle Reaktionen | |
In Kairo, erzählt Meyers, wurde die Arbeit plötzlich sehr politisch: „Kann | |
ein Mann mit einer Frau singen? Kann eine verschleierte mit einer | |
unverschleierten Frau singen?“ Fast gewaltvoll seien manche Reaktionen | |
ausgefallen. Im Kosovo, dem letzten europäischen Land unter internationaler | |
Polizeimission, trug das Werk indes kurzzeitig zur Verständigung bei: „Weil | |
das Stück keine Sprache hat, können Menschen miteinander singen, ohne sich | |
zu erschießen.“ | |
Ob wir uns aus diesem Schlamassel herausproben können, eher singend denn | |
sprechend? Eine utopische Frage, die der Künstler später gar nicht naiv | |
gemeint stellt. | |
Ari Benjamin Meyers hat die Systeme, in denen er arbeitet, gedanklich | |
durchdrungen. Und trotzdem kommt seine Arbeit leicht und zugänglich daher. | |
Im schönsten Falle sogar geradeheraus albern, wie in „Requiem (Ouija)“: An | |
einem kleinen Tischchen kann, wer mag, eine eigene Partitur komponieren. | |
Freilich vorausgesetzt, man mag sich auf den Schaffensprozess einlassen. | |
Hilfe leistet ein Ouija-Bord, bekannt aus US-Horrorstreifen, in denen | |
[2][Teenager damit gern vermeintliche Geister beschwören.] Statt Fragen | |
beantworten die hier alles, was man für eine eigene Komposition benötigt – | |
nicht nur Dur und Moll, auch Tempi, Takt und ganze Melodielinien werden aus | |
dem Äther in den Ausstellungsraum gechannelt. | |
23 Jul 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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