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# taz.de -- Optimismus in der ostdeutschen Provinz: Der neue Bitterfelder Weg
> Das Festival „Osten“ will auf Bitterfeld aufmerksam machen. Gleichzeitig
> soll gezeigt werden, dass hier durchaus wieder Erfreuliches passiert.
Bild: Realsozialistische Erinnerung, bereit für die Zukunft: der Kulturpalast …
Bitterfeld taz | Die Sonne brennt auf Bitterfeld herunter. Der Belag der
Straße, die über die Bahnstrecke in den Chemiepark führt, scheint sich in
der Hitze zu verflüssigen. Keine schlechten Bedingungen für das Solar
Valley. Das wird der Region schon seit über zehn Jahren versprochen. Von
der Straße aus sieht man allerdings wenig davon. Größtes Gebäude ist das
Jobcenter, kurz dahinter ein Autohaus. Arbeitslosigkeit und PS-Konsum –
klassische Merkmale ostdeutscher Provinzen.
Die Arbeitslosenquote liegt mit 6,4 Prozent im Kreis Bitterfeld-Wolfen auch
über dem Bundesdurchschnitt von 4,9 Prozent. Sie ist aber auch signifikant
niedriger als die Berliner Quote mit 8,5 Prozent. „Wir haben hier im Moment
mehr Arbeit als Leute. Deshalb wird viel eingependelt“, sagt Patrice Heine,
Geschäftsführer der Chemiepark GmbH, dem aktuellen
Infrastrukturdienstleister auf dem Gelände [1][des einstigen
Chemiekombinats], zur taz.
Eine kleine Magnetwirkung hat die Region also bereits. Sie soll noch größer
werden. „Es wird sich mehr Industrie ansiedeln. Gerade in den Bereichen
Solar, Halbleiter und Batteriechemie werden wir ein rasantes Wachstum
erleben, was sich auch im Bedarf an Arbeitsplätzen für Fachkräfte auswirken
wird“, prognostiziert Heine. Sein Büro befindet sich ein paar hundert Meter
vom Arbeitsamt entfernt. Kurze Wege im Chemiepark.
## Kultur als Magnet
Noch ein paar hundert Meter weiter befindet sich ein weiterer Magnet, der
gerade herausgeputzt wird. Eine ganze Tischlerwerkstatt hat sich neben dem
Kulturpalast Bitterfeld unter freiem Himmel eingerichtet. Es wird gesägt,
gefräst, gehobelt. Rote Holzplanken entstehen. Es wirkt ein wenig wie
früher. Zwischen 1952 und 1954 errichteten etwa 5.000 Menschen in über
300.000 Stunden freiwilliger Arbeit den in sozialistischem Barock
gestalteten [2][Kulturpalast.] Jetzt sind es viel weniger, sie arbeiten
auch nur ein paar Wochen und bereiten das Gebäude für das am 1. Juli
beginnende [3][Festival „Osten“] vor.
Die roten Holzplanken werden sich dann, so verspricht es Aljoscha Begrich,
zu einer riesigen Rampe verbinden, durch die der kolossale Bau auf eher
ungewöhnliche Weise betreten werden kann.
„Der Parcours führt von hinten durch die Garderobe in das Gebäude. Man
betritt es also nicht durch das imposante Eingangsportal. Die Rampe befährt
man auch zu zweit mit einer Schubkarre“, erklärt der Bühnenbildner und
Dramaturg, der früher unter anderem in Berlin bei Rimini Protokoll und dem
Gorki Theater aktiv war, der taz.
Begrich sieht das als Reminiszenz an die einstige Aufbauarbeit und auch als
Hinweis auf die Rolle als Kulturstätte von Werktätigen. Gemeinsam mit der
Kulturmanagerin Christine Leyerle und dem Dramaturgen Ludwig Haugk begab er
sich vor vier Jahren auf eine Reise zu einstigen DDR-Kulturhäusern.
„Anlass war die vorletzte Bundestagswahl, als die AfD erstmals ins
Parlament eingezogen ist. Wir, die wir in der Berliner Künstlerblase
arbeitend zwar tolle Projekte machten, dabei aber feststellten, dass man
eigentlich immer nur den Menschen etwas erzählt, die schon der gleichen
Meinung sind wie man selber, kamen dann auf die Idee, an Orte zu gehen, wo
viel geschlossen wurde, und wollten einen Impuls dagegen setzen“, erzählt
Leyerle.
Das Trio klapperte die einstigen DDR-Kulturhäuser ab. „In manche waren
Sekten eingezogen, in andere Fitnessstudios. Manche, wie in Wolfen oder
Leuna, waren noch auf“, erinnert sich Leyerle. Die letzte Station war
Bitterfeld, das – nach dem längst abgerissenen Palast der Republik – grö�…
aller ostdeutschen Kulturhäuser. „Auch das sollte damals abgerissen werden.
Über Initiativen, die sich gegen den Abriss wehrten, kamen wir schließlich
zu Matthias Goßler, dem jetzigen Eigentümer“, sagt Leyerle.
Goßler trug als Kind selbst Gedichte im Kulturpalast vor. Er hatte vor, das
Gebäude zu einem Kultur- und Veranstaltungszentrum für die Region zu
entwickeln. Die Vergangenheitsform muss man wählen, weil Goßler wenige Tage
nach einem ersten kurzen Telefonat mit taz bei einem Verkehrsunfall ums
Leben kam. Es ist ein Schock für die Region, denn Goßler war ein Macher,
organisierte unter anderem das Hafenfest am Goitzschesee, einem gefluteten
früheren Tagebau am Rande Bitterfelds. Seine Firma war auch an früheren
Ausgaben des Oldtimerfestivals „Classic Days“ auf dem Berliner
Kurfürstendamm beteiligt. Goßler akquirierte zudem Bundesmittel für die
Sanierung des Kulturpalasts.
## Das Haus ist wieder offen
Den Festivalmacher*innen aus Berlin überließ er nach und nach das
komplette Gebäude zur Bespielung. „Anfangs sollten wir im Außenbereich
etwas machen. Jetzt gibt es wohl keinen Raum, den wir während des Festivals
nicht nutzen“, sagt Begrich lachend.
Ausschlaggebend für das Vertrauen war auch ein Tag der offenen Tür, der im
vergangenen Jahr 800 Neugierige zog. „Die Leute kamen ja nicht in erster
Linie wegen unseres Programms, sondern weil sie sahen, dass das Haus wieder
offen war, dass jemand von außen kam und sich für sie und ihre Geschichten
interessiert, in einer Stadt, die unter dem Strukturwandel in
Ostdeutschland so massiv gelitten hat“, meint Begrich.
Das kam auch gut beim Management des Chemieparks an. „Die
Auftaktveranstaltung vor einem Jahr war großartig und auch großartig
besucht. Wir wollen jetzt als Partner unseren Beitrag dazu leisten, dass
das Festival einen guten Fußabdruck hinterlässt und auch überregional für
Interesse sorgt. Geplant ist, über einen längeren Zeitraum hinaus etwas zu
schaffen“, sagt Heine. Seine Firma steckte richtig Geld ins Festival,
zweimal 40.000 Euro, damit überhaupt Fördergelder im Kulturbereich
beantragt werden konnten.
Hintergrund ist die Hoffnung auf eine größere Attraktivität des Standorts.
„Das war immer eine Region, in die zugezogen wurde. Um Menschen zu halten,
muss man auch Freizeitmöglichkeiten schaffen. Gerade in dieser Gegend
wurden Kunst und Kultur sehr hoch gehalten, selbst als es mehr von oben
verordnet wurde“, meint Heine.
Natürlich, der Kulturpalast Bitterfeld ist untrennbar mit dem Bitterfelder
Weg verbunden, jener Doktrin der DDR-Kulturpolitik, nach der
Künstler*innen in Produktionsbetriebe geschickt oder als
Zirkelleiter*innen für Kurse der schreibenden, spielenden und
singenden Arbeiter*innen in den angeschlossenen Betriebskulturhäusern
verpflichtet wurden. Das wurde oft als Strafversetzung begriffen. Der
Kontakt mit der realen Industriearbeit führte teilweise aber auch zu
kritischer Kunst, wie [4][etwa zu Heiner Müllers sogenannten
Produktionsstücken].
Effekte der Zirkelarbeit sind auch drei Jahrzehnte nach Mauerfall noch
spürbar. „Die Leute hier sind extrem offen für partizipative Projekte, weil
sie das eben von ihren Zirkeln her kennen“, hat Leyerle beobachtet. Ihr
Kollege Begrich fasst es gar unter dem Begriff „Bitterfelder Weg 2.0“
zusammen, wenn im Rahmen des Festivals Schüler*innen der Musikschule
Erwachsenen das Spielen eines Instruments beibringen und der New Yorker
Komponist Ari Benjamin Meyers angepasst an die Kenntnisse und
Lernfortschritte ein Musikstück für dieses neue „Werksorchester“
entwickelt.
## Symbol für den Aufbruch
Mit mehr als drei Dutzend künstlerischen Interventionen wartet das Festival
Osten auf. Es ist ein Symbol für einen Aufbruch. Denn rückblickend ist die
Region vom Kahlschlag geprägt. Hier wurde vor knapp hundert Jahren zwar die
Technologie des Farbfilms entwickelt – ein Kino sucht man in Bitterfeld und
der Schwesterstadt Wolfen aber vergeblich.
Die strahlende Sonne über Bitterfeld kann man sogar als Verkünder einer
neuen Zukunft im Solar Valley deuten. Im letzten Jahr eröffnete die Firma
Meyer Burger hier ein Werk zur Fertigung von Solarzellen. „Fast alle
Flächen im und um das ehemalige Solar Valley sind mittlerweile vergeben“,
bilanziert Chemiepark-Manager Heine. Etwa 14.000 Menschen arbeiten in mehr
als 300 Firmen auf dem 1.200 Hektar großen Areal schon jetzt. „Insgesamt
dürften es bald wieder 20.000 sein, die in der Industrie zwischen Zörbig,
Sandersdorf-Brehna und Bitterfeld beschäftigt sind“, meint Heine. Gut, zu
DDR-Zeiten waren es 35.000. Aber die Jobmaschine brummt. Und Heine sieht es
als Standortvorteil, dass hier die öffentliche Hand für die Entsorgung der
Altlasten zuständig war.
Die Region befindet sich im Wandel, auf einem Bitterfelder Weg 2.0 in der
Kultur wie auch in der Industrie.
27 Jun 2022
## LINKS
[1] /Giftmuell-in-Bitterfeld/!5781456
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturpalast_Bitterfeld
[3] https://osten-festival.de/osten/ueber-das-festival/
[4] /Gespraeche-mit-Dramatiker-Heiner-Mueller/!5169942
## AUTOREN
Tom Mustroph
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