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# taz.de -- Gespräche mit Dramatiker Heiner Müller: Neue Gespenster am toten …
> Einerseits: Heiner Müller ist inzwischen halb vergessen. Andererseits:
> Was würde man mittlerweile wieder geben für ein Gespräch mit ihm, zum
> Beispiel über 9/11!
Bild: Der große Dramatiker mit der unvermeidlichen Zigarre: Heiner Müller.
Heiner Müller war sich seines eigenen Ranges sicher. "Ich bin der beste
lebende Dramatiker, gar keine Frage" - kontert er augenzwinkernd auf
Westreise in Duisburg 1987 eine spitze Bemerkung seines Interviewpartners
André Müller: "Das weiß jedes Kind inzwischen." Zu Lebzeiten wusste er
seinen Ruhm zu organisieren. Ganze Spielzeiten bestritt das Berliner
Ensemble unter seiner Intendanz mit Geschichten aus der frühen
Müller-Produktion. Unvergessen auch die schwarzen Plakate mit dem
Schriftzug "Shakespeare - Brecht - Müller" - drei Dramatiker-Könige, einsam
herrschend über das Theaterreich. Sichtlich genoss er in den letzten Jahren
den Triumph, mit dem alten Brecht-Theater endlich jene Bastion gestürmt zu
haben, die ihm so lange den Zutritt verweigert hatte.
Was war das BE zuvor ein Ort der Niederlage für Müller gewesen? Hier
versagte ihm Brecht in den Fünfzigerjahren den Rang des Meisterschülers,
hier wurden seine frühen Produktionsstücke nicht gespielt - allein das
"Turmzimmer" bot ihm ein paar Jahre später die Weigel an, als Ort für das
Verfassen einer Selbstkritik zu seinem von der SED-Kulturbürokratie
angefeindeten Aufbaustück "Umsiedlerin". An seinem Ausschluss aus dem
Schriftstellerverband der DDR änderte aber auch das nichts. Und ganz
zuletzt musste er auch noch das legendäre Fünfer-Direktorium samt der
etablierten West-Regiegröße Peter Zadek aussitzen - bis er endlich frei und
allein über diesen exponierten Theaterort des neuen Deutschland regieren
konnte.
In den frühen Neunzigerjahren war man vor Müller nirgendwo sicher. Auch wer
nicht ins Müller-Museum am Schiffbauer Damm pilgerte, sondern in die damals
noch frech aufspielende Volksbühne, bekam seine Schlachten serviert - von
Frank Castorf dramaturgisch aufgemischt mit wilhelminischen Schmonzetten
("Pension Schöller") und Kartoffelsalat. Schlug man in jenen Jahren eine
Doktorarbeit in den Kulturwissenschaften auf, sprang einem oft schon auf
dem Vorsatz eine geschichtsdunkle, kalt hämmernde Müller-Sentenz entgegen
("Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel"). Abends vor dem
Fernseher blieb man regelmäßig im Nachtprogramm in der Endlosschleife
seiner Gespräche mit Alexander Kluge hängen - und ließ sich von seinem
weltanschaulichen Gemurmel in den Schlaf gruseln.
Gespräche als Kunstform
Es gab kein Entkommen. Man muss an diese gewaltige Präsenz des Dichters
erinnern, um zu ermessen, wie sehr Heiner Müller heute, über zehn Jahre
nach seinem Krebstod in den letzten Dezembertagen 1995, aus dem
öffentlichen Leben entschwunden ist. Heute weiß längst nicht mehr jedes
Kind, dass Müller einer der wichtigsten deutschen Dramatiker der
Nachkriegszeit war. Nicht nur am BE, an vielen deutschen Bühnen sind
Müllers geschichtsschwere, formstrenge Stücke vom Spielplan entfernt
worden. (Daran wird auch die Marathonlesung aus seinen Gedichten und
Stücken kaum etwas ändern, mit der die Akademie der Künste in Berlin ihren
verstorbenen Präsidenten am Freitag zu seinem 80. Geburtstag ehren wird.)
Aber Müller kommt nun wieder neu groß ins Gespräch. Drei tausendseitige
Bände liegen vor uns - Müller-Gespräche von 1965 bis zu seinem Tod. Mit
ihnen schließt die Suhrkamp-Werkausgabe. Die Bände dokumentieren, wie sehr
gerade beim späten Müller das Gespräch als eigenständige Kunstform
auftritt. In der "kristallinen Erzählstruktur" seiner Stücke setzt Müller
jedes Wort bewusst, arbeitet mit Aussparungen und harten Schnitten - in den
Gesprächen lässt er sich kein Apercu, keine Anekdote entgehen, ist er ein
episch ausmalender Erzähler. Aber den chronologisch aufgereihten, über 170
Müller-Gesprächen lässt sich auch gut entnehmen, wie sich Form und Funktion
der Müller-Gespräche in drei Jahrzehnten verschoben haben.
Am Anfang erfüllt das Gespräch bei Müller die klassische Aufgabe des
Kommentars. Deutlich wird das gleich im ersten Werkstattgespräch: Müller
verteidigt 1965 in Sinn und Form, im Gespräch mit dem Chefredakteur Wilhelm
Girnus und dem Akademie-Germanisten Werner Mittenzwei, seine frühen Stücke
"Der Bau" und "Philoktet" gegen den Vorwurf der Regimekritik. Auch hier ist
das Gespräch für Müller schon eine öffentliche Bühne - aber nach der
harschen Kritik des 11. ZK-Plenums ist kein offener Schlagabtausch gefragt,
sondern Konzessionen an die sozialistische Partei, ein vorsichtiges
Lavieren und Taktieren. Ein Schaugespräch mit vorgegebenen Antworten, der
Müller sich artistisch zu fügen weiß. Er antwortet auf Linie: "Was aber
verstehen Sie unter Eiszeit? Den Kapitalismus."
In seiner späteren Autobiografie "Krieg ohne Schlacht", die aus Gesprächen
erwachsen ist, schreibt Müller über den kulturbürokratischen Eiertanz: "Da
musste gelogen werden. Es war mehr ein Verhör als ein Gespräch. Ich bekam
die Chance, durch gutes Lügen meine Texte vor der Verurteilung zu retten -
das Verhör war auch eine Verschwörung." Die Maske des Gesprächs -
raffiniert bedient sich Müller ihrer in den Sechzigerjahren, um seinen
Stücken den Weg zurück auf die Bühne zu bahnen. Das Gespräch hatte für ihn
existenzielle Bedeutung.
Das ändert sich in den Achtzigerjahren, als Müller, auf die Bühnen in Ost
und West zurückgekehrt, überall wieder viel gespielt wird. Aber in diesen
Jahren versiegt auch langsam die Quelle des Theaterautors. Mit dem Zyklus
"Wolokolamsker Chaussee I-III", seinem Untergangs-Poem auf den
sozialistischen Block, erscheint 1987 am Vorabend der Wiedervereinigung
sein letztes Stück. Das Gespräch emanzipiert sich nun vom Kommentar und
wird zum eigentlichen Zentrum seiner Produktivität.
Pausenlos ist die Kommunikationsmaschine Müller auf Sendung. Bei der
Wiederlektüre der nun weit ins planetarisch Weltanschauliche ausgreifenden
späten Gespräche sticht zuerst Müllers historische Unbefangenheit ins Auge.
Was in der auf pure Gegenwärtigkeit gepolten Literatur der alten
Bundesrepublik säuberlich zum Verschwinden gebracht wurde - die
historischen Schurkenfiguren Hitler und Stalin, das heroische Opfer von
Seneca bis Stalingrad, das ganze Germania-Material -, um all das kreist
Müller obsessiv. Noch einmal entsichert er das deutsche historische
Schreckensarsenal.
Müller kennt in seinen Gesprächen keine Berührungsängste. Mit Vorliebe
zitiert er den NS-Kronjuristen und Hamlet-Forscher Carl Schmitt ("Carl
Schmitt ist Theater") und Ernst Jünger, dem er in seiner Oberförsterei in
Wilfingen 1988 noch die Aufwartung machte. Ernst Jünger als "inneres
Erlebnis" - schon in der SBZ panzerte sich Müller mit der Jünger-Lektüre,
eine "Injektion von Aristokratismus gegen die Nivellierungstendenz der
ersten Jahre". Um Müllers innere Freiheit der Lektüre zu würdigen, darf man
nicht von unseren frivolen Zeiten ausgehen, in denen alle bösen Buben
längst im juste milieu angekommen sind. Man muss sich hier die stickige
Atmosphäre der späten Achtzigerjahre vergegenwärtigen, in denen die
Zitierung ungeliebter konservativer Autoren vom linksliberalen
Establishment noch mit dem Diskursverweis geahndet wurde. Müllers
unbefangener Zugriff war hier ein Akt der Befreiung. Prompt wurde ihm dann
auch von zu liberalen Glaubensbrüdern bekehrten alten Maoisten der
FU-Germanistik eifrig unterstellt, unerlaubt mit "vitalistischer Energie"
im Diskursfeld der alten "Konservativen Revolution" zu wildern.
Im Rücken Europas Ruinen
Aber so frisch und unbefangen Müllers Zugriff auf das gesamte deutsche
Gelände auf der einen Seite anmutet; es ist auch ein gigantisch
ungeordneter Materialberg und Wortschlamm, den er in seinen Gesprächen vor
sich her schiebt. "Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung
BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa" ("Hamletmaschine"). Der ewige
Griff in die Ruinenwelt des alten Europa, ins Kabinett der Geschichte kann
nicht verdecken, dass ihm zur Gegenwart der Neunzigerjahre wenig einfiel.
In all seinen Stücken hat er über das Geheimnis der Revolution
nachgegrübelt, und nun, als sie 1989 überraschend neu auf die Weltbühne
trat, trug sie so ganz andere Züge. Sie war friedlich und sanft - nicht die
"Maske des Todes", sondern die Feier des Lebens.
Müllers Gesprächsmotor lief nach 1989 weiter und erst recht auf Hochtouren.
Seine Ratlosigkeit, die Angst vor dem weißen Papier, der Schreibblockade -
auch sie versuchte er mit pausenlosen Gesprächen und Interviews zu
überdröhnen. (Sein lang angekündigtes Stück über Hitler und Stalin blieb
Fragment und erschien als "Germania 3. Gespenster am toten Mann" erst
1996.) Der Mann mit der Zigarre und dem Whiskey war nun Medienstar; und nur
der frühe Tod rettete ihn vor der ewigen Hölle auf Erden - dem Leben einer
Betriebsnudel und Tommy Gottschalks Ratecouch.
Was bleibt, waren Texte, die auf Geschichte warteten. Müller starb genau in
der Mitte der Neunzigerjahre, in den unbesorgten Boom-Jahren der New
Economy. Wie Fremdkörper ragten in jene Blütezeit Müllers bluttriefende
Terrorstücke hinein. Die Evidenz der Weltläufte hat nur ein paar Jahre
später Müllers Thema wieder neu auf die Tagesordnung gehoben. Was gäbe man
heute für ein Gespräch mit Heiner Müller über 9/11, das taumelnde
US-Imperium und die aufziehenden Darwin-Lektionen - "Für alle reicht es
nicht" - im Krisenjahr 2009.
Heiner Müller: "Gespräche 1-3, (Werke 10-12)". Suhrkamp, Frankfurt a. M.
2008. ca. 3.000 Seiten, 84 €
8 Jan 2009
## AUTOREN
Stephan Schlak
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