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# taz.de -- Theater über Behindertenwerkstätten: Arbeit, immer Arbeit
> Das Bremer Blaumeier-Atelier beforscht Arbeitsbedingungen in
> Behindertenwerkstätten – und macht dabei auch vor dem eigenen Betrieb
> nicht Halt.
Bild: Manchmal ist die Erholung von der Arbeit anstrengender als die Sache selb…
Irgendwann fliegt sie dann einfach raus, die Fabrikbesitzerin – also im
Spiel hinaus aus ihrer eigenen Fabrik und dabei körperlich auch in echt
raus aus dem Theater. Hintertür auf, Ausbeuterin raus, Tür wieder zu. So
einfach ist das. Und während von hier aus das bis dahin
abstrakt-dokumentarisch angehauchte Theater über entfremdete Lohnarbeiterei
sich in eine Gaga-Gala zwischen Musicalschmelz, 80er-Jahre-TV-Show und
Herzschmerz-Popnummer verwandelt, hallt so eine kleine Frage von eben noch
nach: „Haben wir gerade Gewalt angewendet?“ Ein kurzer Schreck war das und
kurz darauf ein Schulterzucken: „Kann schon sein.“
Das von Wanja Lange und Karolin Oesker konzipierte Stück heißt „Fluch der
Fabrik“ und ist [1][im Bremer Blaumeier-Atelier] zu sehen. Für die
Produktion haben Schauspieler:innen mit und ohne Behinderung ihren
Arbeitsalltag erforscht: was sie also machen, wenn sie sich gerade nicht
[2][in Blaumeiers Kunst- oder Theaterprojekten] beschäftigen, sondern in
ihren Behindertenwerkstätten oder anderen Brotjobs.
Auf der von [3][Sibylle Müngersdorf] gestalteten Bühne ist dieses Arbeiten
symbolisch heruntergebrochen auf eine sich endlos wiederholende Szene am
Fließband. Vorn kippt wer bunte Bälle drauf, die von den anderen poliert
werden, bis am Ende eine immer mal wechselnde Farbe aussortiert wird.
Was völlig sinnlos scheint, taugt allerdings nicht nur als knackige
Entfremdungsmetapher, sondern stiftet obendrein auch tatsächlich so eine
Art vergiftete Spannung. Welche Farbe wohl als nächstes raus muss? Wann
gleich wieder ein Positionswechsel kommt? Da rollt ein Hellblauer an der
Sortierung vorbei – Herrgott, sieht sie denn das nicht?! So was fragt man
sich dann und steckt darum offensichtlich emotional schon mittendrin im
Arbeitselend, dessen Sinn man ja bekanntlich selbst erst mal finden, wenn
nicht erfinden muss. Abgesehen vom Geld, versteht sich.
## Gute Fragen, keine Antworten
Tatsächlich auch äußerlich interessant ist hingegen das, was die Blaumeier
in ihren Fließbandpausen (wann auch sonst?) am Kaffeetisch [4][über ihre
Werkstätten zu berichten haben]. Und da reiben sich eben auch
unversöhnliche Widersprüche: Während Max zum Beispiel in strenger
Chronologie einen Arbeitstag vorstellt, der offenbar nur aus Pausen
besteht, gibt es auch Unzufriedenheiten um handfeste Fragen: Warum werden
mir die Kosten fürs Mittagessen vom Lohn abgezogen? Warum haben nur Raucher
eine Raucherpause? Gute Fragen, keine Antworten.
Dass auch Theaterspielen Arbeit ist, kommt übrigens auch zur Sprache, und
damit ein bisschen auch die Verantwortung des Publikums. Wenn nämlich die
da vorn mal was anderes machen möchten, als die Regie sich gerade
vorstellt, dann wird auch so was schnell zum Argument: „Die Leute haben ja
auch Geld dafür bezahlt.“
Und hier bewegt sich das Stück auch um den Kern aktueller Szenedebatten,
die sich ja auch verändert haben, seit inklusive Gruppen wie Blaumeier
irgendwann doch plötzlich [5][ein paar Jahrzehnte Betrieb hinter sich
hatten]. Ging es anfangs vor allem darum, teils schwer hospitalisierte
Menschen aus den Heimen zu holen und mit ihnen Strategien zu erproben, sich
zu entfalten – sozusagen überhaupt erst mal wieder auf die Füße zu kommen
–, dann drängen heute doch auch dramaturgische Metafragen an die
Oberfläche. Wer darf hier eigentlich was? Warum sind es so oft auf dem
Papier gesunde Menschen, die in der Regie das Sagen haben, während die mit
Behinderung zumeist auf der Bühne stehen?
## Aufbegehren in der Kaffeepause
„Fluch der Fabrik“ fällt insofern programmatisch aus, als es diese Frage
zumindest antickt und transparent verhandelt, ohne gleich zur Revolution zu
schreiten. Viel schmerzhafter als der Rauswurf dieser Fabrikbesitzerin ist
etwa ein kurzes Aufbegehren in der Kaffeepause, als Schauspieler keine
Fabrikarbeiter mehr sein wollen und darüber übers Publikum hinweg mit der
Regie in Streit geraten. Da kommt kein „Du musst aber“ aus dem
Lautsprecher, sondern es geht in pädagogischer Gelassenheit darum, dass man
die Szene „doch gemeinsam anders besprochen“ habe und dass eben auch
„Verantwortung übernehmen“ müsse, wer hier das Ruder an sich reißt. Und …
ist ja auch kein Witz, sondern sowas wie das Kernproblem einer jeden
Befreiungsbewegung.
Darum ist auch die erwähnte Anarcho-Gala am Ende natürlich kein Umsturz des
hauseigenen Theaterbetriebs, sondern ein Kompromiss, auch wenn der
zwischendurch mal in Flammen steht. Und dieser Dreh kommt nicht nur bedacht
und vernünftig daher, sondern ist eben auch in Sachen Kunst punktgenau
abgestimmt. Anders wäre ja auch gar nicht zu erklären, wie viel Spaß es
macht, Menschen im Blaumann eine halbe Stunde lang beim Sortieren von
Plastikbällen zuzugucken – die sie am Ende dann doch wieder im gleichen
Eimer zusammenkippen.
27 Sep 2024
## LINKS
[1] /Neues-Buch-ueber-das-Blaumeier-Atelier/!5720716
[2] https://www.blaumeier.de/de/theater/
[3] https://theaterbremen.de/de_DE/ensemble/sibylle-muengersdorf.274564
[4] /Behindert-und-Verrueckt-Pride-Parade/!6022917
[5] /Inklusives-Theaterfestival-Mittenmang/!5780811
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
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