# taz.de -- Disability & Performance Festival Berlin: Die „Cripolution“ | |
> Das „No Limits“-Festival setzt auf Neurodivergenz und die Wertschätzung | |
> individueller Bedürfnisse. Die Performances finden über Berlin verteilt | |
> statt. | |
Bild: Die Stopgap Dance Company wird beim „No Limits“-Festival im Berliner … | |
Revolutionen beginnen oft an den Rändern. Das könnte erneut der Fall sein | |
beim [1][Performancefestival „No Limits“], das vor allem in Berliner | |
Off-Spielstätten stattfindet. Hier sind in diesem Jahr schon allein manche | |
ästhetischen Setzungen sehr stark. | |
In ihrer furiosen Tanzperformance „ÔSS“ brachte die kapverdische Tänzerin | |
und Choreografin Marlene Monteiro Freitas die sehr eigenen und | |
eigenwilligen Körper der inklusiven Tanzkompanie Dançando com a Diferença | |
in ein strenges Tableau. Erzählt wird vom Leben in einer Einrichtung, sie | |
mag ein Sanatorium, eine geschlossene Station, aber auch ein Laboratorium | |
für Menschenexperimente sein. Zwei Krankenschwestern ziehen in | |
militärischem Drill durch die Anstalt. | |
Zuweilen wirken Sara Rebolo und Joana Caetano in ihren überexakten | |
Bewegungen bereits wie Verkörperungen von Pflegerobotern. Als Wrestler und | |
DJ steuert Bernardo Graça robuste Wildheit bei. Vor allem aber bringt die | |
unglaubliche Maria Tembe das ganze Arrangement vollends ins Kippen. Erst | |
sitzt sie in weiße Laken gehüllt in einer Waschschüssel, wirkt dort wie | |
eine Statue. | |
Man fragt sich, wie sie sich so klein machen, wie sie derart ihre Beine | |
verstecken kann. Als sie aus der Schüssel steigt, wird klar: Sie hat nur | |
Beinstümpfe. Auf denen bewegt sie sich ungemein geschickt. Später zieht sie | |
sich eine Polizeiuniform an und strahlt die toxische Autorität faschistisch | |
geschulter Diktatoren aus. „ÔSS“ – auf Kreolisch „Knochen“ – ist e… | |
ihren Bewegungen ungeheuer disziplinierte, in ihren Bildern aber enorm | |
assoziative Tanzperformance, die die Grenzen von Körperlichkeiten und | |
Moralvorstellungen immer wieder sprengt. | |
## Intimitäten und Sex für Menschen mit Behinderungen | |
In eine ebenfalls revolutionäre Spur begab sich die installative | |
Performance „Schule der Liebenden“ [2][des Theaters Hora,] einer | |
Pionier-Compagnie des inklusiven Theaters. Die Performer*innen klären | |
im lockeren Arrangement einer Lunger- und Kuschelecke über Zärtlichkeiten, | |
Intimitäten und Sex auf – und sie fordern das auch für sich, für Menschen | |
mit Behinderungen. Sie kleiden und schminken sich als schrille | |
Liebesberater*innen, erkunden ihre Körper und lassen den Funken der | |
Zärtlichkeiten sogar auf das Publikum überspringen. | |
Zu einer regelrechten Zustimmungsorgie – vor allem aus weiblich gelesenen | |
Mündern – erwächst sich schließlich Fabienne Villigers bemerkenswerte | |
Nein-Performance. Mal sanfter, mal energischer wehrt sie erfolgreich | |
Avancen ihrer männlichen Kollegen ab. #MeToo-Gefahrenabwehr, in Szene | |
gesetzt durch Menschen mit Behinderungen und auch für jene gedacht, die | |
sich als nicht-eingeschränkt definieren. | |
Diese Tendenz fand eine konzeptuelle Zuspitzung im begleitenden Symposium | |
„Cripping Leadership“. „Crip“ – deutsch „Krüppel“ ist hier als E… | |
und Selbstzuschreibung von Personen gemeint, die sich als chronisch krank, | |
behindert oder neurodivers identifizieren, diese Lebensrealität als | |
politisch relevant begreifen und sich für eine Kultur von | |
Gleichberechtigung und fairen Zugangsmöglichkeiten einsetzen. | |
Claire Cunningham, Choreografin und frisch berufene Einstein-Professorin | |
für „Choreography, Dance and Disability Arts“ am Hochschulübergreifenden | |
Zentrum Tanz (HZT), und ihre Mitarbeiterin Angela Alves zeigten im | |
Symposium auf, welch andere Formen und Praktiken sie als „Crips“ in Kunst, | |
Lehre und Forschung einbringen könnten. | |
## Aufeinanderwarten und Rücksichtnahme | |
Sie verwiesen auf andere Vorstellungen von Zeitmanagement. „Große Teile | |
unseres Lebens bestehen aus Warten. Warten auf den Rollstuhl im Flughafen, | |
warten auf das Taxi, warten darauf, dass alle Teilnehmer*innen eines | |
Workshops von der Toilette zurückkommen“, meinte Cunningham. | |
Auch in ihrer Performance „Songs of the Wayfarer“ spielt Warten eine | |
zentrale Rolle. Cuningham begab sich darin als Wanderin in die Berge. Sie | |
bewegte sich dabei auf Krücken fort, stark orientiert am Vierfüßlergang. | |
Sie erkletterte auf diese Art auch die Publikumsränge im HAU2, legte dabei | |
aber immer wieder Pausen ein und betonte die Notwendigkeit eines guten | |
Erschöpfungsmanagements. | |
Aus den Erfahrungen des Auf-die-eigenen-Kräfte-Hörens und Rücksichtnehmens | |
auf andere entwickelte Alves das Szenario einer widerständigen Crip-Praxis. | |
Crips verfügten, so Alves, über große Erfahrungen, sich durch eine | |
patriarchal, rassistisch und neoliberal geformte Welt zu bewegen und | |
dennoch ihre eigenen Räume zu kreieren. | |
Sie und Cunningham beobachteten auch, dass in gemischten Workshops von | |
Menschen mit wie ohne Einschränkungen Letztere ganz erstaunt den Gewinn | |
auch für sie bemerkten, der im Aufeinanderwarten und in der Rücksichtnahme | |
bestünde. | |
## Neurodiversität im akademischen Alltag | |
Daraus lasse sich ein Widerstand gegen allgemein herrschende | |
Effizienzregimes und Ausgrenzungspraktiken herstellen. Beide Frauen reden | |
nicht nur, sie tun auch, was sie sagen. Alves etwa bietet im Netzwerk | |
Neurodiversität der UdK Berlin Workshops für neurodivergente Personen für | |
die bessere Bewältigung des akademischen Alltag in Sachen Zeitmanagement | |
und Arbeitsabläufe an. | |
Cunningham sieht die Berufung als Professorin nicht in erster Linie als | |
persönlichen Karriereerfolg an, sondern kreierte vielmehr ein Team, das | |
Lehre und Forschung gemeinsam gestaltet – aus der Erfahrung heraus, dass | |
Crips auf Hilfe angewiesen sind, aber auch, dass Hilfe die Helfenden wie | |
die, denen geholfen wird, empowern kann. Ziel sei es, so Alves, „safe | |
spaces“ für Nervensysteme aller Art zu schaffen. | |
Mit solchen Ambitionen erreicht das „No Limits“-Festival eine neue Stufe. | |
Künstlerische Höhepunkte versprechen die Tanzperformance „Harmonia“ der | |
ungarischen Choreografin Adrienn Hód (am 18. und 19. November im HAU2), | |
Oskar Spatz’ Solostück „Besser den Spatz in der Hand“ (21. und 22. Novem… | |
im RambaZamba Theater) und „Lived Fiction“, die Zukunftsvision inklusiven | |
Tanzes der Stopgap Dance Company (22. und 23. November im HAU2) zu werden. | |
Zudem wird es am 22. November ein Netzwerktreffen im Ballhaus Ost geben, | |
bei dem sich über Grundsätzliches und Praktisches verständigt wird. | |
19 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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