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# taz.de -- Theaterperformance in Bremen: Mit dem Horn voran
> Begegnungen zwischen Mensch und Fabelwesen sind mitunter für beide
> herausfordernd. Chiara Bersani spielt in „Seeking Unicorns“ mit
> Zuschreibungen.
Bild: Theater geht auf Tuchfühlung: Chiara Bersani in „Seeking-Unicorns“
Was ist los mit mir? Warum verharre ich auf meinem Platz?! Da steht … Nein.
Da liegt … Nein. Da kniet … Nein. Da hockt … Nein. Egal. Da ist [1][ein
Einhorn mitten im Raum], zum Greifen nah, in all seiner Würde und Anmut,
wenn auch ohne Horn, Hufe und Fell. Aber wer weiß schon, wie ein Einhorn
aussieht?
Irgendwann einigten sich die Menschen auf diese Pop-Version, ein makellos
weißes Pferd wie aus dem Barbie-Universum mit einem auf die Stirn geklebten
Horn. Je jünger oder queerer seine Fans, desto bunter geraten Mähne und
Schweif. Klar scheint allen zu sein, dass wir es uns [2][nur ausgedacht
haben].
Nur manche wissen es besser, so wie ein namenloser Onkel in einem Gedicht
der [3][in die USA emigrierten Lyrikerin Lisel Mueller]. In „The Exhibit“
versucht „my uncle in East Germany“, seine Verwandten davon zu überzeugen,
dass das Gemälde, vor dem sie stehen, kein Fantasiewesen zeigt, sondern ein
ausgestorbenes Einhorn. „He is certain power and gentleness / must have
gone hand in hand“, heißt es darin, jedenfalls früher, vor dem Krieg, der
ihn sein Leben lang gefangen hielt. Das Bild, auf das sich die
Pulitzerpreisträgerin bezieht, könnte im Staatlichen Museum Schwerin
hängen, [4][1572 gemalt von Maerten de Vos], für den Einhörner spitze
Ohren und einen zotteligen kleinen Kopf haben sowie einen langen
gekringelten Schwanz wie eine dünne Katze.
## Sehnsucht nach Kontakt
Und nun, an einem Freitagabend Anfang Februar, sehe ich in Bremen ein
Einhorn. Ich könnte es, mit seinem Einverständnis, vielleicht sogar
berühren. Dazu müsste ich nur von meinem Stuhl aufstehen und mich ein, zwei
Meter auf es zubewegen, vorsichtig, am besten auf allen Vieren, damit wir
auf Augenhöhe sind und ich nicht bedrohlich wirke, denn es ist sehr klein:
Stockmaß 98 Zentimeter.
Aber ich bleibe wie angewurzelt sitzen trotz Sehnsucht nach Kontakt mit dem
Lebewesen, das sich auf Einladung der [5][Schwankhalle, einem freien
Theater in Bremen], in die Kunsthalle verirrt hat.
Nur wirkt es so gar nicht verirrt, sondern selbstsicher und gelöst – im
Gegensatz zum Publikum, das auf drei Seiten die kleine Bühne flankiert:
manche auf Stühlen und einer Tribüne, andere auf Sitzkissen. „Bitte zuerst
auf den Boden setzen“, hatte die Produktionsleiterin gesagt, als wir unsere
Plätze suchten. Schnell wird klar, warum. Denn das Einhorn – verkörpert von
der italienischen Performance-Künstlerin Chiara Bersani – sucht unsere
Nähe, kaum hat es uns gefunden. Dabei heißt das keine Stunde währende Stück
„Seeking Unicorns“.
## Nur in der Fantasie
Nachdem es eine Zeit zusammengekauert auf dem Boden gelegen hat, dabei hin
und wieder zuckte und seufzte, erwacht es jetzt, dehnt und streckt seine
kurzen Beine und langen Hände, um sich dann langsam, aber zunehmend
zielstrebig auf Knien und Grundgliedern der Finger zu pochender Musik auf
einen Mann aus dem Publikum zuzubewegen, der auf der Seite am Boden liegt.
Zwischendurch schaut es sich um, fixiert Einzelne von uns mit einem
herausfordernden Lächeln, wirkt dabei auf mich mal wie ein zehn Monate
altes Kind, das gleich mit Lust eine Decke mitsamt Geschirr vom Tisch
reißen wird und einen Wimpernschlag später wie eine Frau, die im Club eine
oder einen mit Blicken verführen will, mit ihr in einen Tanz einzusteigen.
Doch hier steigt niemand ein, kaum wer erwidert das entwaffnende Lächeln
des Einhorns, selbst der Mann, an das es sich schmiegt, verzieht keine
Miene. Es ist, als könnten wir nicht glauben, was wir sehen. [6][Eine
Performerin mit großem Kopf auf kleinem Körper], starken Armen, die so lang
sind wie ihre Beine; die sich präzise und konsistent bewegt. Sie steckt in
einem weißen Puschelleibchen, das gerade ihren Po bedeckt, und zeigt sich
so selbstbewusst und nackt wie alle Fabelwesen, die nicht wissen, dass es
sie nach der begrenzten Vorstellungskraft vieler Menschen nur in der
Fantasie geben kann.
19 Feb 2023
## LINKS
[1] /Die-Wahrheit/!5896220
[2] https://buffy.fandom.com/wiki/Unicorn
[3] /Aus-Nazi-Deutschland-geflohene-Lyrikerin/!5556972
[4] https://www.landesmuseum-mv.de/exponate/staatliches-museum-schwerin/maerten…
[5] /Leitungswechsel-in-der-Schwankhalle/!5693825
[6] /Mittenmang-Festival-in-Bremen/!5597332
## AUTOREN
Eiken Bruhn
## TAGS
Kolumne Großraumdisco
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Bremen
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Theater
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