| # taz.de -- Einhorn-Ausstellung in Potsdam: Das Horn wie ein Turm im Mond | |
| > Gibt es das Einhorn vielleicht doch? Das Potsdamer Museum Barberini | |
| > verfolgt in einer kühnen Schau die Geschichte des schillernden | |
| > Fabelwesens in der Kunst. | |
| Bild: Das Einhorn: hier mal ganz klassisch und nicht Glitzer pupsend | |
| Wollte man es nicht sogar gern für wahr halten, als einmal der | |
| Deutschlandfunk live von einer Einhornfarm berichtete? Zwei Jungtiere seien | |
| dort herangezüchtet worden, ein kleines Horn zeichne sich schon an ihrem | |
| Schädel ab. Und dann: Die Tiere würden auch Erdbeerpudding ausscheiden. Das | |
| war also doch nur Quatsch, eingereiht in den derzeitigen Triumphzug des | |
| Einhorns durch die Pop- und Warenwelt als Glitzerstaub pupsende, | |
| regenbogenfarbene, Gattungen und Geschlechter sprengende Figuration eines | |
| hedonistischen Ja zu allem – nur nicht zur AfD, wie ein zuckriges Exemplar | |
| zurzeit auf Stickern an Kreuzberger Straßenlaternen mit einem „Fuck“ dazu | |
| dahinzwinkert. | |
| Seinen Sprung in die Dr.-Oetker-Fertigmischung für Desserts und auf wokes | |
| Guerilladesign machte das Einhorn aber aus einem kollektiven Bildgedächtnis | |
| mit sehr langer Vorgeschichte. Schon vor etwa 4.000 Jahren tauchte es in | |
| der Vorstellungswelt Indiens auf, so erfährt man jetzt mit | |
| wissenschaftlichem Ernst im Potsdamer Museum Barberini. Dort eröffnet nun | |
| die Ausstellung „Einhorn. Das Fabelwesen in der Kunst“. | |
| Eine hochkarätige, kulturgeschichtliche Schau, sie zeigt Exponate aus der | |
| Zeit von 2000 vor Christus bis zur Kunst der Gegenwart, ohne jeglichen Pop | |
| und Einhorn-Klamauk. Das passt ins Programm des schwerreichen Unternehmers | |
| Hasso Plattner, Financier und Initiator des Barberini. Seit einigen Jahren | |
| steht sein Privatmuseum als rekonstruiertes Barockpalais am Alten Markt in | |
| Potsdam, wo davor noch ostmoderne DDR-Architektur stand, und schmeichelt | |
| sich [1][mit gut gemachten Blockbuster-Ausstellungen] selbst [2][bei | |
| Rekonstruktionskritikern ein]. | |
| Auch die jetzige Schau verspricht ein Blockbuster zu werden. Einige der | |
| frühesten Abbildungen des Einhorns überhaupt kann man hier sehen. Ein nur | |
| fünf Quadratzentimeter großes Steinsiegel der Indus-Kultur, etwa winzig | |
| klein zeichnet sich darauf die Silhouette eines rindartigen Wesens ab, mit | |
| jenem einem Horn an der Stirn. Kaum zu erkennen ist die tierische Kreatur | |
| einer Grabfigur aus China von 200 v. Chr., aber schon, wie kampfesbereit | |
| sie ihr dolchförmiges Horn in die Luft stößt. | |
| ## Von der Wundergestalt zum Schnuddel | |
| Der Weg hin in die europäische Bildwelt um 1500, wo das Einhorn zu jener | |
| unschuldigen, Wunder vollbringenden Pferdegestalt werden konnte, dessen | |
| kommerzialisierter Schnuddel uns heute auf Fruchtgummitüten anlächelt, ist | |
| in der Ausstellung nur sprunghaft über die Jahrhunderte nachgezeichnet. | |
| Mittelalterliche Buchmalereien oder liturgische Geräte zeigen, wie ein | |
| einhörniges Tier, achtmal in der Bibel erwähnt, eine feste Figur im | |
| christlichen Bildkosmos war. Ganz selbstverständlich sitzt es neben Löwe | |
| und Bär, etwa in einer Darstellung der Schöpfungsgeschichte des flämischen | |
| Meisters Boethius von 1480, wie so häufig als Zicklein. | |
| Zum christlichen Symbol wurde das Einhorn durch eine weit ins europäische | |
| Spätmittelalter verbreitete, theologische Naturkunde aus der Spätantike. | |
| Der sogenannte Physiologos fügte dem Tier nämlich eine Legende hinzu: Das | |
| wilde Wesen lebe frei in unbekannten Wäldern und könne nur von einer | |
| Jungfrau gefangen werden, in deren Schoß es zur Ruhe komme. Die Jungfrau | |
| identifizierten Theologen bald als Maria, das Einhorn als Jesus. Der musste | |
| aber in der Logik des christlichen Heilsgeschehens auch zum Opfer der | |
| Menschen werden. Das Rochester-Bestiarium aus dem frühen 13. Jahrhundert | |
| zeigt diese mystische Einhornjagd: Auf himmlisch goldenem Grund erlegt ein | |
| Ritter in Kettenhemd das schlafende Fabelwesen mit einer Lanze im Schoße | |
| Mariens. Das Glied des Tiers ist erigiert, die Jungfrau nackt, das ganze | |
| Bildgeschehen sexuell aufgeladen. | |
| Es ist nun dieses schlüpfrige Motiv kurz vor der Tötung, Jungfrau und Tier | |
| mit Horn sind innig beieinander an einem paradiesischen Ort, das um 1500 | |
| überaus erfolgreich in der europäischen Bildproduktion war. Es erscheint | |
| variantenreich auf Wandteppichen, in privaten Stundenbüchern, auf Gemälden, | |
| selbst auf Spielkarten. Das Tier wird darauf zunehmend pferdeähnlich. | |
| Und die Maria kann auch einmal von einer anderen edlen Dame abgelöst | |
| werden. Wie auf der heute wohl berühmtesten Einhorn-Bilderreihe „La Dame à | |
| la licorne“ aus sechs meterhohen Wandteppichen im Pariser Musée de Cluny | |
| (die zu fragil ist, um sie nach Potsdam zu verleihen). Vor der verneigte | |
| sich Rainer Maria Rilke 1907 in einem Gedicht. Vom „weißen Tier“ schreibt | |
| er, „wie ein Turm im Mond, das Horn so hell“. In Potsdam stößt man später | |
| auf ein surrealistisches Gemälde René Magrittes von 1964, Dame und Pferd | |
| verschmelzen darauf zu einem Wesen, auf seiner Stirn erhebt sich nicht das | |
| Horn, sondern ein Turm. | |
| Das Einhorn sei etwas Imaginäres gewesen, meint der französische Mediävist | |
| Michel Pastoureau, derart tief in der Vorstellung der Gesellschaften | |
| verankert, dass es sich in deren Wahrnehmung der Realität spiegele. So | |
| behauptet Marco Polo um 1300 in seinem Reisebericht aus Sumatra angesichts | |
| eines Nashorns, es sei ja „ausgesprochen hässlich. Diese Tiere haben mit | |
| unseren Einhörnern gar nichts gemein.“ | |
| Bis ins 17. Jahrhundert hinein glaubte man an die Existenz des Einhorns, | |
| zeigt die Ausstellung im Barberini. Der Stoßzahn des Narwals, von Reisenden | |
| und Händlern aus arktischen Gegenden nach Mitteleuropa gebracht, schien | |
| lange als Indiz dafür, man vermutete ihn dem Fabelwesen zugehörig. Das | |
| vermeintliche Horn wurde daher in den fürstlichen Wunderkammern der Neuzeit | |
| gesammelt und in Kirchenschätzen aufbewahrt. Geradezu mystisch erhebt sich | |
| jetzt der wahrhaftige, meterlange spiralförmige Stoßzahn des Meerestiers an | |
| einer Rückwand im Museum. | |
| Genau dieses „Horn“ hing im Mittelalter in der Kirche Saint-Dénis bei Paris | |
| vor der Grablege der französischen Könige. Man versprach sich von ihm | |
| heilende Kräfte. In der Ausstellung sind noch Rezepte aus dem 16. | |
| Jahrhundert ausgelegt, wie sich denn aus dem Pulver eines solchen Horns der | |
| beste medizinische Cocktail herstellen lasse. Spiritualität und totale | |
| Weltlichkeit stehen beim Einhorn eben immer schon nahe beieinander. | |
| 24 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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