| # taz.de -- Bremer Eins-zu-Eins-Performance Festival: Der saubere Herr Ich und … | |
| > Maximal minimalistisch: Mit dem Festival „For Your Eyes Only“ erprobt die | |
| > Bremer Schwankhalle neue Spielorte. Und lässt den Zuschauer mit sich | |
| > allein. | |
| Bild: Ist das Kunst oder fliegt das weg? Kaum sichtbare Ballone regen die Vorst… | |
| Bremen taz | Na, viel ist das nicht gerade für eine Performance. Drei | |
| Luftballons, farblos, transparent, [1][stehen im Wind über der alten | |
| Galopprennbahn] in Bremen-Vahr wie superstabile Seifenblasen. Tanzen. | |
| Tanzen sie? | |
| Der Kopfhörer, über den sich der Donauwalzer einschwingt, der Feldstecher, | |
| der bereit liegt und vor allem der Platz auf der großen Tribüne, der dem | |
| Publikum bei dieser Vorabendvorstellung zugewiesen ist, zwingen dazu, das | |
| zu erwarten, zu erahnen, zu fantasieren: Der Platz ist ein feudaler Sessel, | |
| mitten in der Mitte des Mittelgangs. | |
| Und das Publikum besteht aus einer Person, die jetzt nicht mehr vermeiden | |
| kann, Ich zu schreiben: „Le Moi est haïssable“, das ist so ein Gedanke von | |
| Blaise Pascal, das Ich ist hassenswert. Und zwar sei es das, schreibt er, | |
| aus zwei Gründen, nämlich, „weil es sich zum Mittelpunkt von allem macht | |
| und weil es die anderen unterjocht“. | |
| Genau das passiert hier bei der Eins-zu-Eins-Performance „Present Traces“ | |
| [2][im Rahmen des „For Your Eyes Only“-Festivals der Bremer Schwankhalle]: | |
| Die anderen, also hier das eine Künstler*innenteam – im konkreten Fall | |
| Janis E. Müller, Julie Savchenko und Andy Zondag –, haben sich den | |
| Erwartungen ihres Publikums unterworfen, also des einen Zuschauers, der Ich | |
| bin. | |
| ## Die Feigheit des Kritikers | |
| Der bewertet alles, was sie da anstellen, er misst es an der Skala seiner | |
| Erwartungen: Na, viel ist das ja nun wirklich nicht! Er wird überrascht: | |
| Das ist ja ein toller Zufall, wie sie den Gesang der Krähen auf die | |
| Kopfhörer beamen, gerade, als sich ein Schwarm aus dem versteppten Rasen | |
| erhebt, oder wäre das jetzt …? Und er beurteilt sie notwendigerweise | |
| ungerecht, wie Pascal sagt, der alte Pessimist. | |
| Aber dieser saubere Herr Ich kann ja auch gar nicht anders. Er ist auf sich | |
| selbst zurückgeworfen, schließlich ist ja niemand da, dessen Applaus er | |
| beipflichten könnte, niemand, hinter dessen Urteil er sich ducken könnte. | |
| Dabei würde er so gern: Sind Kritiker nicht, wie alle Voyeure, von Natur | |
| aus feige, verlogen und gemein? Und jetzt soll er sich plötzlich ehrlich | |
| bekennen? Am Ende gar Ich sagen? | |
| Unangenehm? Oder vielleicht doch eine interessante Erfahrung, die dieses | |
| kleine Festival eröffnet? Wobei: klein ist Quatsch. Die ersten vier | |
| Spieltage sind vorbei, acht stehen noch aus: Insgesamt gibt’s 15 Acts, | |
| Programmzeiten sind donnerstags von 18 bis 21, freitags bis 22 Uhr, | |
| samstags und sonntags ab dem frühen Nachmittag. | |
| Weil aber im Prinzip alle acht Spielorte auf dem Rennbahngelände simultan | |
| genutzt werden könnten, ergibt sich, abzüglich der 15-minütigen Pausen | |
| zwischen den Slots, eine theoretische Gesamtspieldauer von 228 Stunden. | |
| [3][Das sind Bayreuther Dimensionen], nur halt ohne Millionensubventionen | |
| für Großorchester und Judenhass. | |
| Die minimalistische Kunstform der Eins-zu-Eins-Performance, also einer | |
| Produktion, die genau jeweils eine Person konsumieren kann, scheint ein | |
| fast unverschämter Luxus, gerade jetzt, während alles zu Sparsamkeit mahnt | |
| und landauf, landab Theater postpandemischen Besucherschwund beklagen. | |
| Zugleich aber vermag dieses Format, weil es so direkt und unausweichlich | |
| anspricht, so radikal konzentriert ist auf die Begegnung von Kunstaktion | |
| und Rezipient, sehr nachhaltige Erlebnisse produzieren. Momente, die sich | |
| im Kopf einnisten und dazu bringen, die Grenze zu suchen, wo Kunst und | |
| Quatsch sich voneinander trennen. Wenn es die gibt. | |
| Mit dem Festival auf der Galopprennbahn, auf der anderen Weserseite gelegen | |
| und gut acht Kilometer Luftlinie vom Stammhaus entfernt, [4][setzt die neue | |
| Leitung der Schwankhalle] die angekündigte Politik der Öffnung in die Stadt | |
| und der Einbeziehung ihrer Szene fort. Die Resonanz der ersten Festivaltage | |
| kann man indes bestenfalls als durchwachsen bezeichnen. | |
| ## Nicht alles ist toll | |
| Und es ist auch nicht alles toll: Manche Produktionen sind von einem | |
| angestrengten Kunstwollen getragen, auf das Ich nicht immer Lust hat, trotz | |
| schöner tänzerischer Energie. Aber geradezu euphorisch stimmt die | |
| Bandbreite der 15 Original-Produktionen, die sämtlich von mehr oder minder | |
| bekannten in Bremen ansässigen Künstler*innen fürs Festival kreiert | |
| wurden, plus den Oktobermond als Stargast, der über dem Freigelände | |
| aufgeht: Ironische Zauberschau und Kräuterteezeremonie, Verliebensworkshop | |
| und Tanzschritterkundung, so vieles geht hier, wo wir doch so pleite sind! | |
| Andere versuchen den Besucher in eine heillose Interaktion zu verwickeln: | |
| Wer sich mit all seinen Neurosen auf Riccardo Castagnolas | |
| Elektronik-Spieltisch einlässt, riskiert, sich in einen febrilen | |
| Duellmodus zu steigern. | |
| Bei dem wird er, wild und planlos, bereitgestellten Klimbim auf die | |
| leuchtenden Felder deponieren, Zahnstocher, Spielzeugmöhren, | |
| Buchstabenwürfel – als wäre es möglich, damit irgendetwas zu beeinflussen. | |
| Als hätte das Gegenüber nicht die Macht, alles zu entscheiden. Als wäre | |
| nicht er der Urheber, der über Anfang und Ende bestimmt, der Autor, der Ich | |
| sagen kann. Der sich den Mittelpunkt erobert. Und alle anderen unterjocht. | |
| 13 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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