| # taz.de -- Distanz in der Philosophie: Meide die Masse | |
| > Philosophen aller Zeiten empfahlen die Distanz. Jetzt kommen wir diesem | |
| > Ideal zwangsweise näher. Das kann aufregend sein und erhebend. | |
| Bild: Hinter Absperrband: einsamer Café-Besucher in der Hamburger City | |
| Die Coronakrise stellt unser System vor ein Dilemma: Gerettet werden kann | |
| es nur (wenn man das denn will) mit Mitteln, die diesem System selbst nicht | |
| zu entnehmen sind. Das zeigt sich ziemlich deutlich, wenn man die | |
| gegenwärtige Situation mit einem anderen Extremphänomen vergleicht: mit den | |
| islamistischen Terroranschlägen. Zwei Wochen nach dem 11. September 2001 | |
| gab der damalige US-amerikanische Präsident George W. Bush die seither | |
| geltende Linie vor. Er ermahnte die amerikanische Öffentlichkeit nicht etwa | |
| zu Entbehrung. „Geht shoppen!“, rief er ihr zu und schwor sie auf die | |
| üblichen Formen des Vergnügens ein: „Fahren Sie nach Disney World in | |
| Florida. Nehmen Sie Ihre Familien mit, genießen Sie das Leben, so wie wir | |
| es genießen wollen.“ | |
| Disney World ist jetzt aber zu, genauso wie unsere tröstenden Tempel, die | |
| Shopping Malls. Selbst den großen Zeitvertreib-Maschinerien, der Olympiade | |
| und den Fußballspielen ist die Krise ins Getriebe gefahren, womöglich für | |
| lange Zeit, weil, wie die alte Weisheit geht, nach Corona vor Corona ist. | |
| Und nicht mal der kleine Konsum ist noch, was er mal war. Für mich vorerst | |
| vorbei: das schöne Gedränge auf dem Wochenmarkt, das kurze erregende Gefühl | |
| von Nähe, wenn nur eine Kiste rotwangiger Äpfel zwischen zwei Menschen | |
| steht … Auch weil der Markt meiner Nachbarschaft im wohlhabenden Hamburger | |
| Westen liegt, und ich den meisten Besuchern unterstelle, straight aus den | |
| Ischgl-Skiferien kommend ihn längst in eine der wirksamsten Virenschleudern | |
| der ganzen Republik verwandelt zu haben. | |
| Wenn aber nicht Konsum und Zeitvertreib tröstet, was dann in dieser | |
| Situation? Die beste Antwort, die ich darauf gefunden habe, lautet: die | |
| Philosophen. Denn fast alle großen Denker haben uns vor zu viel Nähe | |
| gewarnt – und uns jene Distanz empfohlen, die wir nun zwangsweise | |
| praktizieren. | |
| Seneca etwa ermahnte seinen Schüler Lucilius, wohlgemerkt in Briefen: | |
| „Meide die Masse“, und fügte hinzu: Jedes Mal, wenn er, Seneca, unter | |
| Menschen gehe, kehre er gemeiner heim. Blaise Pascal befand im 17. | |
| Jahrhundert: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie | |
| nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Und Friedrich Nietzsche | |
| beschwor Ende des 19. Jahrhunderts im Walliser Sils Maria („6000 Fuß | |
| jenseits von Mensch und Zeit“) ein „Pathos der Distanz“, verstanden als | |
| „der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben“. | |
| Gewiss, sich zu isolieren, ruhig im Zimmer zu bleiben, muss man sich erst | |
| mal leisten können. Das war schon die Einsicht von Virginia Woolf, die in | |
| ihrem Essay „A Room of One’s Own“ skandalisierte, dass Frauen durch die | |
| Geschichte hindurch zwar das Haus führten, dort jedoch meist kein Zimmer | |
| ihr Eigen nennen durften: Wie hätten sie da ihr Leben der Philosophie oder | |
| der Kunst widmen können, die doch äußerste Konzentration erfordern, | |
| Abgeschiedenheit und Ruhe? | |
| Heute, in der Coronakrise, sind es erneut überwiegend Frauen, denen ein | |
| Rückzug nicht möglich ist, weil sie im Gesundheitswesen arbeiten oder an | |
| Supermarktkassen sitzen. Und wer auf Hilfe angewiesen ist oder in engen | |
| räumlichen Verhältnissen lebt, dem hilft „der Wille, selbst zu sein“ auch | |
| nicht gerade weiter. Das gilt besonders in weniger privilegieren Ländern. | |
| In Delhi liegt die durchschnittliche Wohnfläche pro Person bei drei | |
| Quadratmetern. Den Berlinern fallen im Schnitt immerhin 40 Quadratmeter | |
| Decke auf den Kopf. | |
| Also ja, Privilegien sind nie außer Acht zu lassen. Und doch halte ich es | |
| für eine gute Nachricht in düsteren Zeiten, dass die Philosophie so oft die | |
| Distanz gepredigt hat. Vielleicht lassen sich die Wochen sozialer | |
| Distanzierung ein klein wenig besser ertragen, wenn man weiß, dass uns die | |
| klügsten Köpfe zu dieser Lebensweise seit Jahrtausenden zu überreden | |
| versuchen. | |
| Ein wenig liegt diese Sehnsucht nach Distanz dabei im Wesen der Philosophie | |
| selbst: Wer die Welt verstehen und beschreiben will, muss sie sich vom | |
| Leibe halten. Abstand kann die Erkenntnis fördern. Das bedeutet übrigens | |
| auch, dass wir aller Beobachtungsgabe scharfsinniger Virologen und | |
| Gesellschaftsanalytiker zum Trotz die Coronakrise erst dann angemessen | |
| verstehen können werden, wenn sie hinter uns liegt. | |
| Genauso hilft uns der wachsende zeitliche Abstand, einige Philosophen | |
| besser zu verstehen. Zum Beispiel dieser Satz des Franzosen Maurice | |
| Blanchot: „Dort, wo sich eine vorübergehende Gemeinschaft zwischen zwei | |
| Wesen bildet, die füreinander geschaffen sind oder nicht geschaffen sind, | |
| baut sich eine Kriegsmaschine auf, oder besser gesagt, die Möglichkeit | |
| eines Desasters, die, wenn auch nur in infinitesimaler Dosis, die Drohung | |
| einer universellen Vernichtung in sich trägt.“ | |
| Als ich den Satz vor einigen Jahren las, malte ich ein großes Fragezeichen | |
| an den Rand, im Sinne von: Okay, zwischen zwei Leuten kann was schiefgehen | |
| – aber warum steckt darin, wenn auch nur in winzigster Größe, die | |
| Möglichkeit universeller Vernichtung? Jetzt jedoch, wo jede Berührung | |
| gemieden wird, scheint mir der Satz eine völlig korrekte und präzise | |
| Beschreibung des viralen Prinzips zu sein. Gelangt ein Virus durch die | |
| Begegnung zweier Wesen in einen neuen Wirtskörper, vermehrt es sich | |
| millionenfach – und bekommt bei jeder Ansteckung aufs Neue millionenfach | |
| die Chance, zu einem Erreger mit Killer-Potenzial einer ganz anderen Größe | |
| als jetzt zu mutieren. | |
| ## Allein und doch zusammen | |
| Blanchot schrieb seinen Satz 1983. Er bezog sich auf die Gewalterfahrungen | |
| des 20. Jahrhunderts, als (Volks-)Gemeinschaften wie im Nationalsozialismus | |
| oder Kollektive wie im Staatssozialismus das Individuum verschlangen. | |
| Blanchots Antwort darauf war die paradoxe Idee, dass es eine Gemeinschaft | |
| derer geben könne, die keine Gemeinschaft bilden. Allein und doch zusammen | |
| – beides zugleich, ohne Widerspruch! | |
| Einen ganz ähnlichen Traum, der vielleicht heute aktueller ist denn je, | |
| hegte Blanchots Zeitgenosse Roland Barthes. Er widmete 1977 der Frage „Wie | |
| zusammenleben“ eine ganze Vorlesung, deren Manuskript reiches | |
| Anschauungsmaterial für alle Formen der Einsiedelei bietet. | |
| Barthes unterschied zwischen dem Leben im Kloster und dem Eremitentum. Das | |
| Klosterleben lehnte er ab, er sah in dessen strikter zeitlicher | |
| Reglementierung die Fabrik und den modernen Schulbetrieb vorweggenommen. | |
| Das Eremitentum dagegen schätzte Barthes hoch. Es bedeutet ihm zufolge | |
| „nicht absolute Einsamkeit, sondern eher: Verknappung der Kontakte mit der | |
| Welt + Individualismus“. | |
| ## Eingemauert für 40 Tage | |
| Allerdings ist auch bei dieser Art der Einsiedelei nicht alles einerlei. | |
| „Wer sperrt sich am gründlichsten und längsten ein?“, fragte Barthes mit | |
| Blick auf die Geschichte des Eremitentums und schilderte eine regelrechte | |
| „Olympiade der Askese“. Da war zum Beispiel um das Jahr 400 der | |
| Säulenheilige Symeon Stylites. Einen ganzen Sommer verbrachte er bis zum | |
| Kopf eingegraben in einem Garten. Auf den Geschmack gekommen, ließ er sich | |
| für 40 Tage einmauern. Im Jahr 423 schließlich stieg er auf eine Säule, um | |
| fortan 20 Meter über seinen Mitmenschen und näher bei Gott zu leben. | |
| Sein Ideal entdeckte Barthes aber auf dem griechischen Berg Athos. Dort | |
| hatte sich eine Form der Einsiedelei entwickelt, für die er den Begriff der | |
| Idiorrhythmie fand. Die Einsiedler dort lebten allein oder mit zwei, drei | |
| Ordensbrüdern ganz nach ihrem eigenen Rhythmus, waren aber dennoch durch | |
| sporadische Treffen in eine größere klösterliche Gemeinschaft eingebunden. | |
| Für Barthes war das die Utopie eines freien Lebens, das sich genau in der | |
| Mitte hält zwischen den repressiven Formen des Klosters, der Schule, der | |
| Fabrik und der gleichermaßen repressiven Form totaler Einsamkeit. | |
| Den von Barthes gefeierten eigenen Rhythmus zu finden, ist sicherlich die | |
| größte Herausforderung, vor der die meisten von uns dieser Tage stehen. Für | |
| die Kinder ist es vielleicht die größte Chance: kein unsinnig frühes | |
| Aufstehen mehr! Und keine Dreiviertelstundung der Aufmerksamkeit, die doch | |
| auch Erwachsene kaum länger als zehn Minuten aufrechterhalten können, bevor | |
| die nächste Zigarette, die nächste Tasse Tee oder die nächste Episode einer | |
| Tagträumerei unziemlichen Inhalts fällig ist. | |
| ## Individualisierter Lernrhythmus | |
| Was die avancierte Pädagogik seit je gefordert hat – eine | |
| Individualisierung des Lernrhythmus für Schüler –, setzt das Coronavirus | |
| gerade durch. Mein kleiner Sohn hat sich gestern konzentriert von neun bis | |
| elf Uhr abends mit der Zahl Pi beschäftigt, immer wieder zwischendurch | |
| Liegestütze und Einprügeln auf einen Boxsack. Am Vormittag hat er zweiten | |
| Stunden Fortnite gedaddelt. Barthes hätte es gefreut. | |
| Noch einen Schritt weiter ging dessen Kollege Jacques Derrida, indem er | |
| über die konkreten Lebensentwürfe hinaus die Kategorien der Nähe und der | |
| Distanz gleich ganz vermählte. Derrida tat das am Beispiel der Differenz | |
| zwischen Schrift und gesprochener Sprache. Üblicherweise werde angenommen, | |
| die Schrift sei nur ein abgeleiteter Ersatz der gesprochenen Sprache – | |
| Texte wirkten deshalb weniger kommunikativ als ein Gespräch. Derrida hielt | |
| das für ein Missverständnis und argumentierte: Es gebe beides nur zugleich, | |
| beides sei gleich viel wert und immer schon miteinander verflochten. | |
| ## Erogene Distanz | |
| Diesen Gedanken überträgt er in eine ganze „Logik des Supplements“, die | |
| darauf hinausläuft, dass der Ersatz genauso befriedigend sein kann wie die | |
| Sache selbst. Derrida denkt dabei tatsächlich auch an Masturbation. Ich | |
| denke lieber an Videokonferenzen, die neue, beglückende Formen von An- und | |
| Abwesenheit erlauben: Ich starre auf den Bildschirm, scheine dem | |
| sprechenden Kollegen zuzuhören, lese aber in Wahrheit dessen letzten Text – | |
| der interessanter ist als das, was er gerade sagt. | |
| Wo wir aber gerade mit Derrida bei der Sexualität waren: Ganz sicher sind | |
| Distanzen wie Verbote erogen. Was wir weit weg und schwer zu erreichen | |
| wissen, erregt uns gemeinhin mehr als das Vertraute. Und der Aufschub, die | |
| Verzögerung – wer schon mal eine Fernbeziehung geführt oder gefastet hat, | |
| weiß davon zu berichten – macht den späteren Genuss oft umso schöner. | |
| Bis es so weit ist, können wir wahlweise das Leben der Eremiten, der | |
| Philosophen – oder, wenn uns diese Figuren zu zauselig erscheinen, des | |
| Dandys leben. Denn der Dandy, so hat es der Dichter Charles Baudelaire | |
| prägnant definiert, „muss leben und schlafen vor einem Spiegel“, in | |
| exzessiver Selbstbezogenheit. Vielleicht gab es dafür nie einen | |
| geeigneteren Moment als jetzt, wo wir unsere Mitmenschen am besten | |
| schützen, indem wir unsere Zimmer nicht verlassen. Mit sich selbst befasst | |
| sein und zugleich für alle anderen da sein: Für ein paar Wochen ist das nun | |
| kein Widerspruch. | |
| 28 Apr 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Maximilian Probst | |
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