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# taz.de -- Lehren aus der Coronakrise: Virus frisst Ideologie
> Wer die aktuellen Zumutungen nicht für Änderungen nutzt, wird umsonst
> gelitten haben. Ein Rückfall wäre gefährlich.
Bild: Yamraj, der Hindugott des Todes: abschreckende Verkleidung als Coronaaufk…
Wer heute über die Zukunft spricht, tut dies aufgrund zweier stark
divergierender Annahmen: Wir lebten vor Ausbruch der Pandemie entweder in
einer funktionierenden, zufriedenstellenden Normalität oder in zerrütteten
Verhältnissen. Von dieser grundsätzlichen Haltung hängt die Reaktion auf
die brüchige Gegenwart ab. [1][Entweder erwarten wir das Schlimmste oder
wir schöpfen neue Hoffnung]. Selten waren Dystopie und Utopie [2][so nahe
beieinander], genau gesagt 1,5 Meter voneinander entfernt.
Krise, gewiss das Wort des Jahres 2020, bedeutet in der griechischen Urform
krísis laut Duden „Entscheidung, entscheidende Wendung“. Eine Chance somit:
Wer die jetzigen Zumutungen und Herausforderungen nicht für grundsätzliche
Verbesserungen nutzt, der wird umsonst gelitten haben. Ein Rückfall in den
alten Status quo wäre die gefährliche Folge einer rückwärtsgewandten
Lethargie. Denn ein Land, ein Weltsystem, das von einem Virus so schnell in
die Knie gezwungen werden kann, war schon davor krank.
Diese Diagnose ist nicht einmal gewagt oder umstritten. Das, was sich
Wohlstand nennt, basiert auf einer noch nie dagewesenen Ausbeutung von
Natur und Mensch. Sowohl die ökologischen Zerstörungen als auch das extreme
Anwachsen der Ungleichheit, vielfach dokumentiert und analysiert, sind
allgemein anerkannt, nur nicht in Kreisen von Realitätsleugnern und
systemrelevanten Ideologen.
Letzteren macht die Krise nun den Garaus. Viel ist geschrieben worden über
die Einschränkung der Grundrechte im Hauruckverfahren, weniger darüber,
dass fast alle neoliberalen Prinzipien über Nacht über Bord geworfen
wurden: der vielgerühmte freie Markt, das oft beschworene Prinzip
gesellschaftlicher Freiwilligkeit (bei Produktion und Konsum wohlgemerkt)
und das ewige Heil im Wirtschaftswachstum.
Die Apologeten des freien Markts sind verstummt, denn wir haben im
Belastungstest sein Versagen erlebt. Länder oder Regionen, die ihr
Gesundheitssystem nach profitorientierten Kategorien umgebaut haben
(Beispiel Lombardei), haben sich tödlich umstrukturiert. Und obwohl
Pandemien regelmäßig auftreten, haben sie für diesen Fall nicht angemessen
vorgesorgt, weil Gemeinwohl nicht profitabel ist. Dem freien Markt gelingt
es nicht einmal, selbst Monate nach dem Ausbruch, Masken in ausreichender
Zahl zu produzieren.
Schon wenige Tage nachdem das Virus Teile der Wirtschaft unvermeidlich zum
Erliegen gebracht hat, ertönten Kassandrarufe, weil eine Rezession von 3
Prozent (neuerlich korrigiert auf 6 Prozent) abzusehen ist. Wie soll man
einen Organismus bezeichnen, der in seiner Existenz bedroht ist, weil er um
3 oder 6 Prozent schrumpft?
Als Lösung wird mit nicht existierendem Geld gegossen, keineswegs nach dem
Gießkannenprinzip – weltweit geben die Staaten Milliarden aus zur „Rettung…
jener Wirtschaftsteilnehmer, in deren Händen Vermögen ohnehin bereits stark
konzentriert ist. Die folgende Verschuldung wird nur durch starkes
Wirtschaftswachstum zu überwinden sein, was wiederum zu weiterer
Umweltzerstörung und Ungerechtigkeit führen wird.
Kaum war die Epidemie zur Pandemie ausgewachsen, wurden weltweit
dirigistische Instrumente eingesetzt, die öffentliche Hand war gefordert,
die Konzerne verkrochen sich (oder [3][versuchten sich à la Adidas mit
erhöhter Asozialität durchzumogel]n). Allerorten wurde staatliche
Unterstützung oder Verstaatlichung gefordert. Was einen doch sehr erstaunen
muss, waren doch diese Instrumente zuvor allesamt als ineffektiv und
schädlich abgetan worden.
Verblüffend ist, dass jene Menschen, die eine höhere Steuer auf SUVs als
unerträglichen Eingriff in ihre Freiheit ablehnten, nun bereit sind,
ordnungspolitische Einschnitte zu akzeptieren, etwa, dass sie ohne
zwingenden Grund gar nicht Auto fahren dürfen. Was passiert wohl, möchte
man so einem Homo Eintagsfliege zurufen, wenn uns ein ökologisches Desaster
ereilt? Es wird mit Einschränkungen reagiert werden, gegen die kaum jemand
protestieren wird, weil es sich schlecht gegen die Faktizität der
Katastrophe argumentieren lässt. Abgesehen von solchen politischen Ironien
haben die Ereignisse der letzten Wochen klar aufgezeigt, wieso Gefährdung
(die heutige Bedeutung von „Krise“) zur Wendung führen muss.
Wir müssen die Grundlagen unseres Systems infrage stellen. Wir waren nicht
so gesund, wie viele von uns sich eingebildet haben. Wir haben das
menschliche Leben unter- und Waren überbewertet. Nun sehen wir uns einer
gesamtgesellschaftlichen Triage gegenüber, bei der wir entweder Gesundheit
oder Wohlergehen opfern müssen. So wie die Menschen im Globalen Süden, die
täglich zwischen Überleben und Leben hin und her geworfen werden.
Wir werden diese Misere ohne eine mutige Neugestaltung der Weltwirtschaft
nicht mit Würde überstehen. Wir müssen uns vom Diktat des
Wirtschaftswachstums befreien, wir müssen alles, was lebenswichtig ist, in
Gemeinschaftsvermögen überführen. Und wir benötigen einen globalen
Lastenausgleich, eine weltweite Sozial- und Gesundheitsversorgung, denn
hinter der gegenwärtigen Krise lauern viele andere, etwa die drohende
Hungersnot in Ostafrika.
Fangen wir an mit dem hoffentlich bald entwickelten Impfstoff gegen
Covid-19. Er sollte nicht der Pharmaindustrie überlassen werden. Impfstoffe
gegen Diphtherie, Tetanus und Masern sind von der öffentlichen Hand
hergestellt und verteilt worden. Als Jonas Salk, der Erfinder des
Polio-Impfstoffs, gefragt wurde, wer das Patent besitze, antwortete er:
„Alle Menschen. Es gibt kein Patent. Können Sie die Sonne patentieren?“
Leider leben wir in einem System, das sich bislang anmaßt, die Wunder der
Natur zu privatisieren, während es diese gleichzeitig zerstört. Höchste
Zeit zu erkennen, wie krank das ist!
29 Apr 2020
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## AUTOREN
Ilija Trojanow
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