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# taz.de -- Corona und Klima: Mit zweierlei Maß
> Warum bei Covid-19 der Ausnahmezustand herrscht und Staaten beherzt
> handeln – aber nicht bei der Klimakatastrophe.
Bild: Gute Nachricht für das Klima: Leere am Flughafen Berlin-Schönefeld, 17.…
Deutschland und andere Industriestaaten erlegen ihren Bevölkerungen und
ihrer Wirtschaft ein Schockprogramm auf, um die Corona-Epidemie
einzudämmen. Dabei werden Maßnahmen ergriffen, die ohne Beispiel in der
jüngeren Geschichte sind: Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und die
Freiheit der Person werden suspendiert, ebenso das Grundrecht auf Asyl.
Große Teile der Wirtschaft werden lahmgelegt.
Vergleicht man diese Maßnahmen mit der Reaktion auf eine andere, weitaus
schwerwiegendere Krise, die Bedrohung des Lebens auf der Erde durch
Klimawandel und Artensterben, fällt ein deutlicher Kontrast ins Auge:
Während sich die Staaten in der Corona-Epidemie als extrem handlungsstark
erweisen und für die Gesundheit ihrer Bürger:innen auch auf kurzfristige
Wirtschaftsinteressen keine Rücksicht nehmen, ist in der Klimafrage seit 40
Jahren so gut wie nichts passiert. Forderungen nach wirkungsvollen
Klimaschutzmaßnahmen werden regelmäßig mit dem Verweis abgeschmettert, dass
man nicht in die Freiheitsrechte von Menschen und Unternehmen eingreifen
könne. Kurzstreckenflüge verbieten? Unmöglich! SUVs in Innenstädten
untersagen? Undenkbar! [1][Kohleausstieg bis 2025]? Gefährdet
Arbeitsplätze! Fleischkonsum drosseln? Ökodiktatur! Autokonzerne zum Bau
von öffentlichen Verkehrsmitteln umfunktionieren? Kommunismus!
Doch angesichts des Virus ist plötzlich fast alles möglich: Finanzminister
Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier haben öffentlich darüber
nachgedacht, große Industriekonzerne vorübergehend zu verstaatlichen, um
sie vor dem Kollaps zu bewahren. [2][Billionenschwere Rettungspakete]
werden international auf den Weg gebracht, um die Wirtschaft vor dem
Zusammenbruch zu bewahren – Geld, das für einen sozial-ökologischen Umbau
angeblich nie da war.
Dieser Kontrast ist umso seltsamer, als die Corona-Epidemie selbst nach den
düstersten Prognosen um vieles weniger tödlich ist als ein ungebremstes
Klimachaos. Gewiss: In der Pandemie müssen wir Menschen schützen, vor allem
die Risikogruppen. Aber warum gilt nicht das Gleiche für Klimaopfer? Wenn
bei Corona das Vorsorgeprinzip gilt, dann muss es beim Klimaschutz ebenso
gelten. Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Basis für eine Einschätzung
der Gefährlichkeit von Covid-19 noch sehr dünn ist. Im Falle des Klimas
liegen dagegen Jahrzehnte weltweiter Forschung vor, die übereinstimmend zu
dem Schluss kommt, dass zu zögerliches Handeln Hunderte von Millionen
Menschen gefährdet.
Wie kommt es zu diesem Kontrast? Warum wird Covid-19 als eine Gefahr
identifiziert, die es rechtfertigt, Grundsätze und unsere Grundrechte
plötzlich über Bord zu werfen, während beim Klima seit Jahrzehnten nichts
geht? Warum sind die Leben gegenwärtiger und künftiger Klimaopfer so viel
weniger wert als die von Menschen, die durch Covid-19 gefährdet werden?
## Langfristiges Problem, kurzfristig ausgerichtete Politik
Die erste Antwort darauf ist relativ naheliegend: Klimakatastrophen sind
ein langfristiges Problem, während unsere politischen Systeme kurzfristig
ausgerichtet sind. Wenn ein Drittel von Bangladesch in einigen Jahrzehnten
überschwemmt sein wird, wenn große Teile des Mittleren Ostens und Afrikas
durch Überhitzung nicht mehr bewohnbar sein werden und wenn auch die
deutschen Wälder vollends vertrocknen, dann sind fast alle Politiker, die
heute die Weichen stellen (oder eben nicht stellen), längst nicht mehr im
Amt.
Die zweite Antwort reicht tiefer. Die Opfer des Klimachaos sind vor allem
die ärmsten Menschen auf der Erde, insbesondere im Globalen Süden. Das
Corona-Virus dagegen macht vor den Schranken von Klasse und Nationalität
nicht Halt. Auch reiche weiße Männer in den Industriestaaten sind
gefährdet. Während Kameras rund um die Uhr Bilder von
[3][Corona-Intensivstationen] senden und uns ein Gefühl von Weltuntergang
vermitteln, schert sich um die vielen Millionen Bewohner:innen des
Mekong-Deltas, denen bereits jetzt das steigende Salzwasser ihre Ernten
zerstört, kaum ein Mensch.
Die Klimawissenschaft zeigt, dass die Industriestaaten in den nächsten zehn
Jahren ihre Treibhausgasemissionen um 80 Prozent senken müssen, um eine
Chance zu haben, global unter 2 Grad zu bleiben und weitere Kippunkte im
Erdsystem zu vermeiden. Dazu braucht es einen raschen, tiefgreifenden Umbau
unserer gesamten Ökonomie. Entscheidend wird dabei sein, wie die
umfangreichen Rettungspakete für die Wirtschaft, die derzeit verhandelt
werden, aussehen. Werden Industrien wie die Flugzeug- und die Autobranche
gerettet, um danach ihr Business as usual fortzusetzen? Oder werden die
Gelder benutzt, um die nicht zukunftsfähigen Branchen zu konvertieren?
Warum zum Beispiel nicht für die Mitarbeitenden von Airlines massiv neue
Stellen bei der Deutschen Bahn schaffen, wo in den vergangenen Jahrzehnten
Hunderttausende Arbeitsplätze abgebaut wurden? Warum nicht Rettungspakete
für Autokonzerne daran koppeln, dass sie ihre Produktion, so rasch es
technisch geht, auf Ein-Liter-Autos, kleine Elektrofahrzeuge und vor allem
öffentliche Verkehrsmittel umbauen? Warum nicht massiv in die öffentliche
Gesundheitsversorgung investieren, die lange kaputt gespart und
privatisiert wurde, und damit auch für weitere Pandemien sowie für kommende
Hitzewellen gerüstet zu sein? Und warum nicht, wie einst unter dem New Deal
in den USA, Einkommen- und Vermögensteuern für die Reichsten auf 70 Prozent
und mehr erhöhen, damit sie ihren fairen Anteil am gesellschaftlichen Umbau
leisten?
All das ist keine Utopie. Aber es kann nur Wirklichkeit werden, wenn sich
die Zivilgesellschaft aus der gegenwärtigen Schreckstarre befreit, um in
die folgenreichen Entscheidungsprozesse der nächsten Wochen einzugreifen.
Einen Shutdown der Demokratie darf es nicht geben. Im Gegenteil: Jetzt ist
die Zeit des Handelns.
29 Mar 2020
## LINKS
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[2] /Corona-Rettungspaket-der-Regierung/!5670691
[3] /Coronaepidemie-in-Deutschland/!5674942
## AUTOREN
Fabian Scheidler
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