# taz.de -- Fiktive Kanzlerinnenrede: Neustart Deutschland | |
> Wenn die Coronakrise überwunden ist, wird Kanzlerin Merkel wieder eine | |
> Ansprache an die Bundesbürger:innen halten. Hier schon mal ein Vorschlag. | |
Bild: Zum Neustart Deutschland sind alle herzlich eingeladen | |
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute wende ich mich an Sie, um die | |
Freude mit Ihnen zu teilen, dass wir gemeinsam die schlimmsten Auswirkungen | |
der Coronakrise überwunden haben. Ich danke von Herzen allen Helferinnen | |
und Helfern, besonders denen aus dem Gesundheitswesen! | |
Uns allen ist in jenen Tagen schmerzlich bewusst geworden, dass Gesundheit | |
einer der höchsten Werte ist. Unsere Krankenversorgung ist dem in den | |
letzten Wochen nicht immer gerecht geworden. Wir hatten zwar viele | |
Intensivbetten, aber [1][nicht genug Pflegekräfte]. Die Privatisierung des | |
Gesundheitswesens, die standardisierte Abrechnung nach Fallgruppen, die | |
Überlastung von Pflegekräften bei gleichzeitig schlechter Bezahlung – all | |
das war keine gute Idee. | |
Vor 1985 war es gesetzlich verboten, in Kliniken Gewinne zu machen. Müssen | |
wir nicht dahin zurückkehren? Wir brauchen Krankenhäuser, die nach | |
Kriterien des Gemeinwohls wirtschaften und Personal menschenwürdig | |
bezahlen. Wir haben genug Pflegekräfte im Land – doch die meisten haben | |
wegen schlechter Bedingungen ihre Arbeitsstelle gewechselt. Nun stehen wir | |
in der Pflicht, sie zurückzugewinnen. | |
Heute betrauern wir die Toten, die das Virus gefordert hat, und wir fühlen | |
mit den Angehörigen. Wir als Bundesregierung müssen uns aber auch fragen, | |
ob weitere Todesfälle vermeidbar waren und sind: die rund 25.000 Toten, die | |
die Grippe jedes Jahr fordert, die jährlich 33.000 Personen, die | |
multiresistenten Keimen erliegen, die 4.000 Verkehrstoten pro Jahr, die | |
10.000 Hitzetoten im Dürresommer 2018. Durch die Klimakrise ist es zudem | |
wahrscheinlicher geworden, dass wir zukünftig Malaria-, Dengue- oder | |
Nilfieber-Pandemien erleben. Wir sind es allen Menschen schuldig, dass wir | |
hier genauso durchgreifen. | |
Die Bundesregierung will deshalb Kliniken und Seniorenheime | |
kommunalisieren, Pflegepersonal besser ausbilden, bezahlen und weniger | |
belasten. Die tierquälerische und gefährliche [2][Massentierhaltung] als | |
Hauptquelle multiresistenter Keime wird verboten. Landwirte, die Ställe | |
tierfreundlich umbauen, bekommen Unterstützung. EU-Agrarsubventionen gehen | |
vor allem an jene, die ohne Pestizide und Kunstdünger wirtschaften. | |
Klima- und Artenschutz wird zur obersten Priorität, damit wir unser aller | |
Überleben sichern und nicht noch mal eine Pandemie erleben. Städte und | |
Verkehrssysteme benötigen einen Totalumbau, und Sie, liebe Mitbürgerinnen | |
und Mitbürger, bekommen hier größere Mitspracherechte. Repräsentativ | |
ausgeloste Bürgerräte, die frei von Lobby-, Partei- und Eigeninteressen | |
agieren, werden auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene die wirksamsten | |
Maßnahmen zusammentragen. | |
Der ökosoziale Neustart unserer Wirtschaft sollte sich nicht länger am | |
abstrakten Bruttosozialprodukt orientieren, sondern am Wohlergehen aller. | |
Wir möchten nicht den Fehler von 2008 wiederholen: Damals haben wir Banken | |
gerettet, aber menschen- und klimafeindliche Infrastrukturen unverändert | |
gelassen. Diesmal aber spüren wir: Es ist keine gute Idee, von langen | |
Lieferketten, von Medikamenten und Teilen aus China abhängig zu sein. Wir | |
brauchen eine Glokalisierung, eine krisenfeste Relokalisierung der | |
Wirtschaft mit reparaturfreundlichen Gütern. Das spart Treibhausgase und | |
schafft sinnvolle Arbeitsplätze vor Ort. | |
Die Bundesregierung hat jetzt schon Milliarden in die Hand genommen, um | |
Unternehmen zu helfen. Doch wir wollen Kredite und Soforthilfen nicht per | |
Gießkanne verteilen, sondern als Hilfe zum ökosozialen Umbau. Ein | |
bedingungsloses Grundeinkommen soll allen Soloselbstständigen zugutekommen. | |
Die Flugzeug-, Kreuzfahrt- und Autoindustrie soll nur dann Subventionen | |
erhalten, wenn sie auf klimafreundliche Mobilität umschaltet. Die Zahl | |
erlaubter Starts und Landungen auf Flughäfen wird eingefroren. | |
Der neue Berliner Flughafen BER ist unnötig, in seinen Hallen wird ein | |
moderner Indoor-Golfplatz eingerichtet. Auf Straßen und Autobahnen gilt ein | |
Tempolimit. Im Tourismusbereich wollen wir unter anderem gesunden | |
Radtourismus und transatlantische Überquerungen per Schiff fördern. Wir | |
haben ja alle in den letzten Wochen gespürt, wie gut uns Pausen tun – warum | |
nicht mal eine zweiwöchige Reise nach Amerika? | |
Es kommen hohe Kosten auf uns zu, die wir jedoch gegenfinanzieren können. | |
In den 1930ern hat die US-Regierung mit dem New Deal die Krise abgefedert | |
und damit ein Abdriften in den Faschismus verhindert, und das können wir | |
mit einem EU-weiten Green New Deal wiederholen. Wir wollen zunächst alle | |
umweltfeindlichen Subventionen abschaffen, etwa für Flugbenzin; das spart | |
allein in Deutschland rund 60 Milliarden Euro. Zweitens bauen wir das | |
Finanzsystem um und führen Reichensteuern ein; Superreiche zahlten damals | |
zeitweise bis zu 90 Prozent Steuern. Drittens: Durch eine ökosoziale | |
Steuerreform senken wir Lohnsteuern und erhöhen Steuern auf | |
Ressourcenverbrauch einschließlich CO2. | |
## Ökosoziale Steuerreform | |
Zudem denken wir über eine umfassende Bodenreform nach. [3][Mieten in | |
Städten] müssen bezahlbar bleiben, für landwirtschaftliche Bodenpreise gilt | |
dasselbe. Es ist nicht einzusehen, dass Menschen in spätrömischer Dekadenz | |
von leistungslosem Einkommen leben – um den verstorbenen FDP-Chef Guido | |
Westerwelle zu zitieren. Er meinte zwar Hartz IV, aber wir meinen jetzt die | |
Kapitalfonds und Grundbesitzer. | |
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger – ich lade Sie alle herzlich ein zum | |
Neustart Deutschland. Ja, wir können solidarisch! | |
Jetzt ist die beste Gelegenheit, mit dem menschen- und planetenfeindlichen | |
Wirtschaften aufzuhören und eine wahre Solidargemeinschaft zwischen | |
Menschen und Natur zu gründen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir | |
solche visionären Erweiterungen unseres Denkens brauchen, um unser Handeln | |
neu auszurichten. Ich danke Ihnen. | |
26 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ute Scheub | |
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