| # taz.de -- Corona und der Sensationalismus: Verrücktheiten allüberall | |
| > Man fühlt sich irgendwie unnütz, wenn man beim Weltuntergang mit Chips | |
| > auf dem Sofa sitzt. Da wittern einige schon einen Anschlag auf die | |
| > Grundrechte. | |
| Bild: Der Mindestabstand zwischen Brat- und Suppenhuhn: Pandemie-Frühling im V… | |
| Der Sensationalismus ist eine Gemütsauffassung, die Erlebnisse steigern | |
| will, egal welcher Art. Selten sagt man: „Jetzt ist es mal gut, jetzt gehe | |
| es wieder langsamer an.“ Meist will man die Dosis steigern, um den Kick zu | |
| erhalten. Wir kennen das Steigerungskalkül beim Drogenkonsum, beim Sozial- | |
| und Liebesleben, beim Shopping. Es ist diese Gier nach „intensiven | |
| Erlebnissen“ oder der „Intensität des Spürens“. Daraus ergeben sich so | |
| manche Absurditäten. Gäbe es diese Gier nach Intensität nicht, gäbe es, ich | |
| wette, weniger „Vorerkrankungen“, ein Wort, das wir heute wie | |
| selbstverständlich verwenden. | |
| Vor einem Monat überschlugen sich die Horrornachrichten, [1][die | |
| Infektionszahlen mit Covid-19] schnellten steil nach oben, aus Italien | |
| erreichten uns Bilder von apokalyptischer Anmutung. Alle zehn Minuten | |
| schlug eine neue Desastermeldung auf unseren Stand- oder Mobilgeräten ein. | |
| Als Nachrichtenkonsument machten uns diese Meldungen ganz verrückt und | |
| zugleich konnten wir nicht von ihnen lassen, der Sensationalismus schlug | |
| uns auch in den Bann. | |
| Diese seltsame Mixtur aus Angst, Schock und Faszination war durch die | |
| kognitiv nicht leicht zu verarbeitende Tatsache verstärkt, dass wir | |
| zugleich das Gefühl hatten, selbst inmitten einer Katastrophe zu stehen, | |
| als Opfer förmlich, und doch von dieser Katastrophe in aller Regel wenig | |
| mitbekamen. Da draußen war Apokalypse, aber wir sahen von ihr nichts. | |
| ## Mit Chips auf dem Sofa | |
| Man fühlt sich irgendwie unnütz, wenn man beim Weltuntergang mit Chips auf | |
| dem Sofa sitzt. | |
| Eigentümlich ist die menschliche Psyche in solchen Fällen: Wir waren dann | |
| irgendwie froh, dass in unseren Breiten das Desaster sich nicht mit Rasanz | |
| entfaltete, dass sich – vorerst – die Infektionszahlen stabilisierten. Und | |
| zugleich ertappte man sich gelegentlich dabei, dass einem irgendetwas | |
| fehlte, sobald die Horrornachrichten weniger wurden. | |
| Zu diesen emotionalen Seltsamkeiten gehört auch das, was wir neuerdings das | |
| „Präventionsparadox“ nennen. Wenn richtige Maßnahmen wirken, erwecken sie | |
| den Eindruck, unnötig gewesen zu sein. Wenn weniger Menschen sterben als | |
| befürchtet, führt das dann skurrilerweise nicht zu Aufatmen, sondern zu Wut | |
| auf jene, die die Maßnahmen verhängten, die sich so scheinbar als | |
| übertrieben herausstellten. Als wäre es eine empörungswürdige und nicht | |
| erfreuliche Tatsache, dass weniger Leute sterben als befürchtet. | |
| ## Prävention ist nicht sexy | |
| „There is no Glory in Prevention“, hat [2][Christian Drosten, der Popstar | |
| unter den Virologen], schon vor Wochen gesagt. Und jetzt ahnen wir langsam, | |
| wie recht er hatte. | |
| Verrücktheiten allüberall. Dass wir sechs Wochen nicht ins Kaffeehaus, | |
| sondern nur in den Park dürfen, wird von manchen schon als „Anschlag auf | |
| unsere Grundrechte“ und „autoritäres Regierungshandeln“ gesehen. Aber ein | |
| Gemeinwesen wird nicht zur Diktatur, nur weil man während einer Pandemie | |
| besser mal für begrenzte Zeit nicht in Massen durch die Straßen | |
| demonstriert. Wer das schon für Diktatur hält, ist so unernst, dass es | |
| eigentlich alle Menschen beleidigt, die wirklich gegen autoritäre Systeme | |
| ankämpfen. | |
| Besonders lieb finde ich Wortmeldungen wie jene von Frank Castorf. Der | |
| einstige Intendant der Berliner Volksbühne jammerte in einem | |
| Spiegel-Interview, er habe sich „noch nie so beengt gefühlt“ wie jetzt, und | |
| beklagte, dass er von etwas überängstlichen Menschen beim Metzger | |
| angepflaumt wird, er solle den Mindestabstand einhalten, wenn er zwischen | |
| Brat- und Suppenhuhn gustiere. | |
| Das ist noch einmal speziell ulkig, da Frank Castorf ja vor 25 Jahren – | |
| siehe oben: „Gier nach Intensität“ – ein neues „Stahlgewitter“ | |
| herbeiwünschte, oder eine „Apokalypse“ oder dass „der Amazonas über uns | |
| hereinbricht“. Einfach, damit irgendetwas geschieht, das ihn aus der | |
| Langeweile reißt. Jetzt hat er eine Pandemie, das erste Naturereignis, das | |
| seiner Sehnsucht einigermaßen nahekommt – und jetzt ist es auch wieder | |
| nicht recht. Wie hat er sich eigentlich seine „Stahlgewitter“ vorgestellt? | |
| Als höfliches Dinner mit Suppenhühnern? | |
| ## Urbedingung des sozialen Seins | |
| Stoisch liege ich im Hausarrest auf meinem Rücken, rauche, interessiere | |
| mich für all diese Seltsamkeiten und lese mich durch andere Jahrhunderte. | |
| In der Weltbühne von Jänner 1918 finde ich eine kleine Glosse von Alfred | |
| Polgar über „die kleinen Leute“, die das Werk am Laufen halten, mag rundum | |
| auch alles zusammenbrechen. | |
| Der Hausmeister, der scheuert, der Schornsteinfeger, der Briefträger. Diese | |
| „Normalen“, so Polgar, sind für ein Gemeinwesen, was die Sonne für unser | |
| Biosystem ist, sie gewährleisten „die Urbedingungen des sozialen Seins“. | |
| Polgar: „Ich will lieber die Büste meines Briefträgers auf den Schreibtisch | |
| stellen“ als die irgendeines großen Mannes. | |
| Warum baut man nicht den Briefträgern, den Supermarktkassiererinnen, | |
| Krankenpflegerinnen und dem Metzger von Frank Castorf Denkmäler? | |
| 3 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Lehren-aus-der-Coronakrise/!5678805 | |
| [2] /Defizite-der-Wissenschaftskommunikation/!5673445 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Der rote Faden | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Frank Castorf | |
| Pandemie | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schlagloch | |
| Wissenschaftskommunikation | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Coronavirus in Deutschland: Öffnet die Kitas und die Horte | |
| Richtig entschieden hat die Regierung, den Besuch von Spielplätzen und Zoos | |
| zu erlauben. Wer die Ansteckung fürchtet, kann zu Hause bleiben. | |
| Lehren aus der Coronakrise: Virus frisst Ideologie | |
| Wer die aktuellen Zumutungen nicht für Änderungen nutzt, wird umsonst | |
| gelitten haben. Ein Rückfall wäre gefährlich. | |
| Defizite der Wissenschaftskommunikation: Widerspruch gehört dazu | |
| Expertise von Wissenschaftlern ist derzeit gefragt. Der Fall „Corona“ zeigt | |
| aber, dass nicht vermittelt werden konnte, wie Wissenschaft funktioniert. |