# taz.de -- Historiker über Distanz im Mittelalter: „Vertrauen durch Nähe“ | |
> Der Historiker Klaus Oschema beschäftigt sich mit Abstandsregeln im | |
> Mittelalter. Körperliche Nähe zum Fürsten konnte Aufstieg oder den Tod | |
> bedeuten. | |
Bild: Nicht immer ungefährlich: die Nähe zum Herrscher, dargestellt im mittel… | |
taz: Herr Oschema, was bedeutete körperliche Nähe am mittelalterlichen Hof? | |
Ehre oder Gefahr? | |
Klaus Oschema: Die Position der Körper im Raum spielte für die | |
gesellschaftliche Organisation immer eine Rolle, das ist heute nicht anders | |
als am mittelalterlichen Hof. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass | |
das politische Machtzentrum in der Wahrnehmung der mittelalterlichen | |
Gesellschaften der Fürst selbst war. Und die Nähe oder Distanz zu diesem | |
Zentrum ist ausschlaggebend für die Wahrnehmung der jeweiligen Positionen – | |
das heißt, je näher am Fürsten, desto besser, weil es ein Zeichen des | |
Vertrauens des Fürsten ist. Gleichzeitig sind diejenigen, die nah am | |
Machtzentrum sind, selbst aber nicht dieses Zentrum sind, immer gefährdet, | |
von Neidern und Konkurrenten angefeindet oder gewaltsam attackiert zu | |
werden. Dadurch ist es automatisch eine ambivalente Situation. | |
Wenn man über das Leben und den gewaltsamen Tod einiger Günstlinge im | |
Mittelalter liest, fragt man sich, wie präsent die Verletzlichkeit des | |
Körpers damals war. | |
Die war sehr präsent. Die Medizingeschichte etwa zeigt, dass der Körper des | |
vormodernen Menschen immer wieder ein Körper der Schmerzen war. Wenn man | |
gegen Schmerzen nicht einfach ein Aspirin einwerfen kann, sondern auf | |
deutlich weniger effiziente Mittel angewiesen ist, wird der Schmerz | |
vertraut – und auch die Fragilität des Körpers. | |
Aber das hinderte die Menschen nicht daran, den sozialen Aufstieg | |
anzustreben? | |
Das Streben nach Macht und Aufstiegsmöglichkeiten lässt sich immer wieder | |
beobachten – und es steht den Zeitgenossen klar vor Augen, dass dieses | |
Streben immer mit Gefahren verbunden ist. Wir sehen das an einer nicht | |
enden wollenden Literatur, die genau diese Dynamik beschreibt: | |
Aufsteigerfiguren, die als Arrivisten wahrgenommen und für ihre Karriere | |
kritisiert werden, die sie über ihren eigentlichen Rang befördert – und | |
deren Fall als moralisches Exempel beschrieben wird. | |
In einem Aufsatz schildern Sie, wie bei Fürstentreffen spezielle | |
Konstruktionen gebaut wurden mit Löchern, durch die hindurch sich die | |
Herrscher die Hand geben konnten. Was ist das für eine sonderbare | |
Gleichzeitigkeit von Annäherung und Misstrauen? | |
In der Tat, aus der modernen Perspektive betrachtet ist das ein | |
Widerspruch: auf der einen Seite Vertrauen demonstrieren zu wollen durch | |
körperliche Nähe und gleichzeitig deutlich sichtbare Vorsichtsmaßnahmen zu | |
ergreifen. Hier muss man den Blick öffnen für die Geisteswelt des 15. | |
Jahrhunderts: Es ist eine Zeit, in der wir vor allem in Frankreich eine | |
ganze Reihe politischer Attentate beobachten können, die den Zeitgenossen | |
auch vor Augen stehen. Und gleichzeitig hängt man noch dem Ideal des | |
vollkommenen sozialen Ausgleichs an: Ein Friedensschluss soll nicht nur pro | |
forma den Kampf beenden, sondern tatsächlich Harmonie stiften. Der Gedanke, | |
den man verfolgt, ist, dass man über die körperliche Berührung eine | |
Verschmelzung und Harmonie der Seelen herbeiführen kann. Das sehen wir bei | |
ganz unterschiedlichen Gesten, mit denen man die körperliche Nähe | |
provoziert, um einen wirklich harmonischen Austausch etwa zwischen | |
ehemaligen Konfliktparteien herbeizuführen. | |
Wann wurde der Handschlag eine allgemeine Geste, die jenseits des Bereichs | |
der Herrscher und Höfe praktiziert wird? | |
Wir sind seit etwa dem 19. Jahrhundert daran gewöhnt, dass die Menschen, | |
denen wir in der Öffentlichkeit begegnen, neutral sind. Das ist eine | |
Selbstverständlichkeit, die in der Vormoderne nicht da ist. Wenn Sie einem | |
Unbekannten begegnen, noch dazu in einer unbekannten Situation, kann er | |
Freund oder Feind sein, es ist immer das Potenzial der Gefahr da. In diesem | |
Rahmen sind Begrüßungsgesten extrem wichtig, sie können in der Distanz | |
durch Verneigung oder Hutheben geschehen oder in der Nähe durch Handschlag. | |
Der hat zunächst eher Vertragscharakter, aber geht in den städtischen | |
Gesellschaften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in den | |
Grußcharakter über. | |
Sie schildern auch das Schicksal eines Henkers, der Herzog Johann | |
Ohnefurcht von Burgund die Hand hinhielt – und daraufhin hingerichtet | |
wurde. Da spürt man, wie gefährlich die Überschreitung der Regeln ist. | |
Die körperliche Berührung ist je nach sozialem Kontext eine hochgradig | |
schwierige Sache. Wir verarbeiten das in unser stark individualistisch | |
geprägten Gesellschaft mit Vorstellungen der Intimität, des Eindringens in | |
die körperliche Privatheit. Für die Vormoderne, zum Teil aber auch für | |
unsere Zeit, hat die Grenzziehung sehr stark mit sozialen Rollen und damit | |
auch mit dem Aufrechterhalten der sozialen Ordnung zu tun. Dieser Henker | |
ist Capeluche, der Anführer einer populären Partei im gärenden Paris. | |
Capeluche steht eigentlich auf der Seite der Burgunder, die wieder in die | |
Stadt hineinkommen, angeführt von Herzog Johann Ohnefurcht, und Capeluche | |
streckt ihm die Hand entgegen, ohne dass der Herzog weiß, wessen Hand er | |
nimmt. Damit maßt der Henker sich an, sich mit einem Fürsten auf eine Ebene | |
zu stellen. Das ist unerträglich in einer stark auf Rang und Hierarchie | |
aufgebauten Gesellschaft. | |
Das heißt, es geht weniger um die Gefahr für Leib und Leben des Herrschers | |
als um die symbolische Überschreitung? | |
Wenn man den Akt nicht sanktioniert, riskiert man eine Infragestellung der | |
Grundlagen der gesamten Ordnung. Das ist bei Johann Ohnefurcht so, bei dem | |
die Frage des sozialen Rangs im Vordergrund steht. Ein anderes Beispiel | |
sind die gesalbten Könige: Den Gesalbten des Herrn zu berühren, ist | |
natürlich zudem mit einem religiösen Tabu verbunden. | |
Gleichzeitig ist ein Bestandteil der Zeremonie, dass die Pairs de France, | |
die Hochadligen, den König auf den Mund küssen. Für den heutigen Betrachter | |
ist auch das sehr fremd. | |
Für uns heute ist der Kuss auf den Mund hochgradig intim, wenn nicht | |
sexuell konnotiert. Im Rahmen des Lehnsystems des hohen und späten | |
Mittelalters ist ganz klar, dass beim Eingehen des Lehensverhältnisses eine | |
Abfolge ritueller Akte erfolgt. Man muss sich vorstellen: Zwei freie Männer | |
begeben sich in ein Rechtsverhältnis, bei dem der eine Herr sein wird und | |
der andere sein Gefolgsmann. Das heißt, wir haben Gesten der Unterordnung: | |
Der Gefolgsmann kniet, er legt seine Hände in die des Herrn. Dann wird er | |
aber wieder buchstäblich aufgehoben, um ihn auf den Mund zu küssen. In | |
diesem Akt der symbolischen Gleichrangigkeit ist der Kuss auf den Mund ein | |
Zeichen der Gleichordnung und zugleich ein Instrument, dass das harmonische | |
Verschmelzen der Seelen bewirken soll. | |
Kennt das Mittelalter das Abstandhalten als eine Praxis gegen die | |
Übertragung von Krankheiten? | |
Die Quarantäne ist erst als verzögerte Reaktion auf die Pest im späten 14. | |
Jahrhundert in den italienischen Hafenstädten entstanden. Zuvor hat man | |
bereits die Ausgrenzung bestimmter Gruppen, etwa Lepröser, durch örtlich | |
unterschiedliche Praktiken, etwa dadurch, dass sie Glocken tragen müssen. | |
Da geht es aber nicht nur um Ansteckung, sondern auch darum, symbolisch den | |
Kontakt zu vermeiden mit einer Gruppe, die als unehrenhaft gilt. Ab dem | |
Spätmittelalter legte man für sie spezielle Orte außerhalb der Stadttore | |
an, um ihnen im Sinne der christlichen Caritas eine Existenz zu ermöglichen | |
– aber fern der restlichen Gesellschaft. | |
In Kleingruppen kann man sehr unterschiedliche Reaktionen beobachten. Dass | |
man nicht wie in den heutigen Coronazeiten versucht, flächendeckend Abstand | |
zu halten, beruht auch darauf, dass man den Hintergrund der Krankheit in | |
anderen Phänomenen verortet. Das können Ausdünstungen sein – dann empfiehlt | |
sich Abstand und die Kleider der Toten werden verbrannt. Aber was wir nicht | |
haben, ist die Vorstellung von Kleinstwesen wie Bakterien oder Viren, die | |
Krankheiten übertragen. | |
Galt die Ausgrenzung der Leprakranken unabhängig von ihrem sozialen Stand? | |
Das ist eine schwierige Frage. Ich fürchte, dass für die Reichen und | |
Mächtigen andere Bedingungen galten. Im 12. Jahrhundert sieht man das sehr | |
schön an der Geschichte König Balduins von Jerusalem, der über Jahre hinweg | |
leprakrank ist und trotzdem weiter als König in seinem Reich agiert. | |
Gab es damals überhaupt die Vorstellung, dass man sich gegen eine Epidemie | |
auflehnen kann, oder betrachten die Zeitgenossen Krankheiten wie die Pest | |
als eine Strafe Gottes, bei der Widerstand ohnehin sinnlos ist? | |
Da muss man differenzieren. Genauso wenig wie wir heute absolute Einigkeit | |
haben über angemessene Reaktionen auf Corona, genauso wenig gibt es | |
homogenisierte Einstellungen in den mittelalterlichen Kulturen Europas. | |
1 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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