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# taz.de -- Soziologie der Seuche: Alles auf Abstand
> Die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Abstandsregeln haben einen
> Nebeneffekt: Sie verbessern den Umgang miteinander.
Bild: Seuchenschutz: Menschen stehen mit großem Abstand Schlange
Hamburg taz | [1][Distanz wahren] lautet die zentrale Handlungsanweisung,
mit der die Politik fast überall auf der Welt der Corona-Pandemie Herr zu
werden versucht. Damit zieht plötzlich ein ungewohnter Anstand in das
öffentliche Leben ein. Die Menschen nehmen einander wahr, sie nehmen
Rücksicht aufeinander.
So paradox es ist: Das Social Distancing, das Voneinander-Abstand-Halten,
bringt uns einander näher, weil wir uns gegenseitig Respekt erweisen.
Distanz zu wahren bedeutet, dem anderen nicht auf die Pelle zu rücken, und
das kann [2][viele Formen annehmen]:
In der Coronakrise ist es zunächst einmal die physische Distanz; dann aber
auch der Abstand, den man wahrt, indem man sein Gegenüber von den eigenen
Körperflüssigkeiten verschont. In normalen Zeiten würde es bedeuten, in der
U-Bahn nicht die Beine breit zu machen, andere nicht zuzutexten, Leuten den
Vortritt zu lassen.
Distanz schafft überhaupt erst die Voraussetzung für friedliche
Begegnungen. Abstand verhindert, dass mein Gegenüber einfach über mich
herfallen kann. Der Handschlag – der in Coronazeiten freilich ausfallen
muss – ist dabei eine Geste, die es zugleich ermöglicht, Kontakt
aufzunehmen, das Gegenüber einschätzen zu können, die aber automatisch
einen Abstand von anderthalb Armlängen herstellt.
## Forschung zum Raumverhalten
Nach der [3][Proxemik], der [4][Forschung zum Raumverhalten], beginnt hier
die „soziale Distanz“ oder je nach Nomenklatur „entfernte persönliche
Distanz“. Alles was näher ist, setzt eine spürbare Vertrautheit mit dem
anderen oder ein persönliches Interesse voraus. Die intime Distanz, in der
wir körperliche Kontakte zulassen, beträgt ungefähr einen halben Meter.
Das verbale Gegenstück zum Handschlag ist das Siezen. „Sie Arschloch“ oder
„Sie Schlampe“ klingt wie ein Widerspruch in sich. Auch wer siezt, gewährt
einem Fremden ein Mindestmaß an Respekt. Im Geschäftsleben signalisiert es,
dass man es mit jemandem zu tun hat, der etwas im Schilde führen könnte.
Nationen, in denen es üblich ist, sich zu duzen, haben oft eine
Hilfskonstruktion für das Sie. Briten sprechen sich mit Mister und Misses
an, US-Amerikaner verwenden Sir im Umgang mit Kunden und Höhergestellten.
Ähnlich kann auch das Sie eine Distanz zwischen oben unten markieren,
allerdings gleichgewichtig: Man siezt sich gegenseitig.
Man könnte sagen, Distanz stabilisiert das soziale Gefüge, und je prekärer
dieses ist, desto größer der Bedarf an Distanz. Einen Extremfall stellen
dabei Großreiche und frühe Staaten dar. Während der längsten Zeit der
Geschichte war der Zugriff der Herrscher auf ihre Untertanen und ihren
Apparat so schwach, dass sie den Abstand zu ihnen mit Hilfe von Propaganda
und eines ausgeklügelten Zeremoniells ins aus heutiger Sicht Absurde
steigerten: Sie erklärten sich zu Göttern.
Mehr über Nähe und Distanz lesen Sie in der gedruckten taz am wochenende
oder in unserem [5][E-Kiosk].
24 Apr 2020
## LINKS
[1] /Lockerung-der-Corona-Massnahmen/!5676736
[2] /Ein-paar-Gedanken-zu-Distanzen/!5677209
[3] https://iug-umwelt-gesundheit.de/pdf/2006-4_schwerpunkt2_Proxemik.pdf
[4] https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/proxemik/10396
[5] /Unser-eKiosk/!114771/
## AUTOREN
Gernot Knödler
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