| # taz.de -- Alltag in Corona-Zeiten: Schön haben wollen’s die Menschen | |
| > Ob Hipstereltern mit Fashion-Mundschutz für die Kleinen, ob freshe Kids | |
| > mit Wein: Alle versuchen sich einzurichten. | |
| Bild: Klar, der Spielplatz im Park ist mit rotem Flatterband abgesperrt, na und? | |
| Die größte soziale Distanz hatte ich schon vor Corona zurückgelegt, Ende | |
| November, als die U-Bahnen noch nervige Notwendigkeit waren und man auf dem | |
| Weihnachtsmarkt den Atem Fremder im Nacken nur belustigt in seine | |
| olfaktorische Einzelheiten – Glühwein, Knoblauch, Raclettekäse – zerlegte, | |
| ganz ohne Virenangst. Damals also hatte ich genug vom vielen | |
| U-Bahn-Pendeln, anderthalb Stunden Radweg sind selbst für Berliner | |
| Verhältnisse einfach zu viel, und so zog ich nach Britz. | |
| Ein Glück. Mit Pendeln wäre es jetzt ja schon lange vorbei, ich säße ohne | |
| Liebe allein im schon halb leer entmieteten Haus, selbst die tröstlichen | |
| Haschschwaden, die immer dick und schwer durch die bröckeligen Wände vom | |
| Nachbarn zu mir rüberzogen, würden dünner, weil ihm vermutlich der | |
| Nachschub ausgeht. Und statt in täglich grüner werdende Bäume guckte ich | |
| vom Balkon in den grauen Hinterhof, in dem der einzige Baum seit Jahren | |
| unter einer dicken Schicht Sanierungsbaustaub verschwunden war. | |
| Aber auch jenseits des Blicks aus dem Fenster ist die Distanz enorm. Ich | |
| war lange nicht mehr in meinem alten, abgesehen vom leer entmieteten Haus, | |
| wirklich schönen Kiez. Dort, wo die Straßen immer voll waren, wo ein Café | |
| das nächste Antiquariat ablöst und man stets zufällig Bekannte traf. Und | |
| jetzt? Keine Ahnung, aber ich stelle mir gern vor, wie die Kinder dort | |
| jetzt schicke Mundschutzmasken von Lala Berlin tragen, [1][während sie an | |
| den Eisdielen Schlange stehen]. | |
| Hier in Britz gucken mich die Alkis, die mit Abstand tagein, tagaus vor dem | |
| Penny stehen, komisch an, wenn ich meinen Einwegmundschutz aufsetze, bevor | |
| ich mir brav einen Wagen schnappe. Ich komme mir sehr uncool und fehl am | |
| Platz vor, zu viel Prenzlauer Berg im Vibe. | |
| Apropos Vibe, von Corona ist hier auch sonst wenig zu spüren. Dass alles | |
| zuhat, fällt nicht auf, weil’s außer der Pizzeria und der kleinen Trafik | |
| nichts gibt, was geöffnet haben könnte. Klar, der Spielplatz im Park ist | |
| mit rotem Flatterband abgesperrt, na und? Ein paar Kinder klettern | |
| trotzdem, ein paar Mamas haben Decken ausgebreitet, ältere Kinder löffeln | |
| einträchtig nebeneinander ihr McFlurry. Und am kleinen Wochenmarkt haben es | |
| sich die richtig freshen Kids mit ihren Uni-Unterlagen und Weißwein auf dem | |
| Boden bequem gemacht. | |
| ## Man lebt, Corona hin oder her | |
| Nichts davon stört irgendwen. Und nichts – das lässt sich zwar schwer | |
| festmachen, ist auch mehr so ein Vibe – muss groß diskutiert werden. ’ne | |
| Haltung zu irgendwas braucht man hier nicht, man lebt halt einfach. Corona | |
| hin oder her. Ich denke an den winzigen Bioladen gegenüber meiner alten | |
| Wohnung, in dem immer die taz auslag und in dem ich von den Inhabern über | |
| die Gefahren von Sojamilch aufgeklärt wurde. | |
| Hier wird beim Einkaufen nicht geredet, mit wem auch, die Mitarbeiter sind | |
| völlig überlastet mit dem Nachräumen in die Regale. Und beim Joggen kann | |
| ich nicht länger die Superathleten bewundern, die im Volkspark entlang der | |
| Strecke stehen und ihre entblößten Muskeln umständlich an den Geräten | |
| aufwärmen. | |
| Am Teltowkanal sitzen dafür – krass romantisch – junge Paare auf den | |
| Bänken, beim Laufen drängle ich mich durch die Rentnergangs mit ihren | |
| diversen Hunden, die abstandslos nebeneinander herschlendern. Die Papas | |
| tragen ihre Kinder nicht um die Brust gewickelt stolz vor sich her, sondern | |
| spielen Fußball mit ihnen. | |
| Am Ende ist die Distanz, anderthalb Radstunden hin oder her, wohl gar nicht | |
| so groß. Die Menschen wollen’s schön haben, ob mit oder ohne Haltung, | |
| theoretischem Unterbau oder politischer Überhöhung. Am Ende war die größte | |
| Distanz, die ich zurückgelegt hab, wohl die vom Allein- zum | |
| Zu-zweit-Wohnen. Ein Glück, dass ich’s rechtzeitig geschafft hab. | |
| 27 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ariane Lemme | |
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