# taz.de -- In der Schlange stehen ist Normalzustand: Immun gegen das Virus Ung… | |
> In stummem zivilen Gehorsam, die Köpfe auf das Smartphone gesenkt, | |
> Mundschutz über der Nase, warten wir alle auf den Gang zum Schalter. | |
Bild: „Wie früher, als wir für Bananen angestanden haben.“ | |
Der alte Mann, der die Straße entlanghumpelt, stoppt vor der Post. Mit | |
zitternder Hand hält er zwei orange gerasterte Zettel in die Höhe. „Ich | |
will doch nur die Überweisung.“ Fassungslos fixiert er die [1][Schlange vor | |
der Stahltreppe hinauf zum Eingang] und wendet sich dem jungen Mann mit | |
Migrationshintergrund in gelber Schutzweste zu, der das Geschehen von oben | |
dirigiert. „Nur die Überweisung“, wiederholt er und präsentiert seine | |
Zettel wie Passierscheine. | |
Seine weißen Haare umtanzen ihn wie ein Strahlenkranz. „Die wollen da nicht | |
mehr als vier Leute drinhaben. Wegen Ansteckungsgefahr“, erkläre ich dem | |
geschockten Senior. Der Security-Löwe weist mit dem Finger in die Ferne. | |
Die dunklen Augenhöhlen des Alten weiten sich zum Medusenblick, als er | |
sieht, dass sich die Reihe der Abstandshalter bis zum Eingang des | |
Alnatura-Markts um die Straßenecke zieht. Er beginnt, unkontrolliert mit | |
den Armen zu schlagen. „Polizei kommt“, versucht sich der Treppenwächter zu | |
rechtfertigen, „paarmal schon, messen jeden Meter“, und zuckt mit den | |
Schultern. | |
Jahrzehntelanges Probewarten auf das neue iPhone und vor dem Eingang am | |
Berghain, in Lichter- und Menschenketten hat Deutschland auf die schwerste | |
Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gut vorbereitet. Wahrscheinlich reihen | |
sich deshalb jetzt fast alle so klaglos zur morgendlichen Schlange, auch | |
wenn sie hier niemanden an den Händen halten dürfen. | |
Trotzdem steckt meinen Mitstehern eine gewisse Scham in den Klamotten, zu | |
Statisten in einer Szenerie genötigt zu werden, die an das Regiment der | |
Mangelwirtschaft mehr als an den Mäander der Spektakelkultur erinnert, der | |
sich einst um die Nationalgalerie mit den Schätzen des MoMA wand. | |
## Schönheit ist eine Schlangenlinie | |
„Wie früher, als wir für Bananen angestanden haben“, seufzt eine ältere | |
Dame im dunkelblauen Kostüm. „Krass, guck dir das an“, ruft ein | |
Fahrradfahrer seiner Freundin zu. Ungläubig bestaunen sie die um die | |
Stahlpoller gewundene Serpentine wie das Skelett eines Dinosauriers im | |
Naturkundemuseum. Mir gefällt diese soziale Plastik gewordene Absage an die | |
schnöde Gerade. Schönheit ist eine Schlangenlinie, freut sich der Kritiker | |
in mir, als ich wieder anderthalb Meter vorrücke. | |
Natürlich versuchen immer wieder ein paar dieses zum XL-Monster gestaute | |
Distanzgebot zu unterlaufen. „Schlange ist Schlange, Filiale, Filiale“, | |
wächst der Glatzkopf in weißer Tunika, der hier jeden Tag mit servilem | |
Lächeln den „Querkopf“ verkauft, aus der Rolle des Gabenempfängers in die | |
des Hilfssheriffs, als er eine Frau mit Sonnenbrille anherrscht, die sich | |
mit einem gemurmelten „Nur schnell mal was fragen“ vordrängeln will. | |
„Bettruhe bei nationalem Fieberwahn“ steht auf seinem Fahrradkorb. | |
„Komm hoch!“, ruft mir der echte Sheriff von der Rampe zu, als er mich in | |
der Schlange erblickt. „Ich will mich nicht vordrängeln“, wehre ich ab. | |
„Postfach, Blindenausweis, Geldautomat. Kann rein. Das entscheide ich“, | |
entgegnet er. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. | |
Ich will nicht lügen. Zu Beginn des Coronozäns war auch ich von dem | |
Schlangenritual genervt. Dann fügte ich mich in das Unvermeidliche, trat | |
jeden Tag neu symbolisch der Solidargemeinschaft im Leid bei. Nach ein paar | |
Tagen hatte sich dann eine Art Herdenimmunität gegen das Virus Ungeduld | |
gebildet. In stummem zivilem Gehorsam, die Köpfe auf das Smartphone | |
gesenkt, Pakete unter dem Arm, Mundschutz über der Nase, warten wir alle | |
auf den Gang zum Schalter. | |
„Wir kommen schon durch, paar Wochen noch“, murmelt mein Vordermann, als er | |
sich dreht und die Nase in die Sonne reckt. „Dauert lange“, sagte der junge | |
Mann auf dem Treppenabsatz, ohne aufzuschauen. Abgebrüht wie ein Veteran im | |
Schützengraben winkt er den Nächsten hoch. | |
23 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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