# taz.de -- Zunehmender Corona-Disziplinverlust: Keiner hält sich an Einsfünf… | |
> Wir stehen immer später auf, die Kinder gehen immer später ins Bett. Den | |
> U-40-Jährigen in Berlin ist die Lust am Abstandhalten abhanden gekommen. | |
Bild: Coronazeiten mit Kindern: Erst „Morgenkreis im Zoom-Meeting“ und dann… | |
Es ist ein ewiges Jetzt. Der stahlblaue Himmel mit der unbarmherzigen Sonne | |
darin. Die braunen Frühjahrswiesen in den ewig gleichen Parks, in die wir | |
stolpern, um das ewig Gleiche zu tun: Inlineskaten, Roller fahren, Pässe | |
kicken, Studentenfutter essen, aus Doppler-Flaschen trinken, Fotos machen | |
und per WhatsApp an einsame und kranke Freunde verschicken. Görlitzer Park, | |
Treptower Park, Hasenheide, Viktoriapark, Tempelhofer Feld, Zickenplatz. | |
Und wieder von vorn. | |
Die Boulevardpresse meldet: Kitas zu bis August. In die Grundschulen ab Mai | |
erst mal nur Sechstklässler. Ich höre schon fast nicht mehr hin. Oder | |
sollte mein tastendes Tun doch systemrelevanter Journalismus sein? | |
Wahrscheinlicher: [1][Alles bleibt, wie es ist, für immer und ewig]. | |
Vielleicht brauchten wir die „Hasenschänke“ nie wirklich, vielleicht ist es | |
gut und richtig, dass das ausladende Vordach des kultigen Kiosks jetzt | |
Zelte, Matratzen, Schlafsäcke und Biervorräte vor dem ausbleibenden Regen | |
schützt. | |
Vielleicht ist es gut und wichtig, dass wir die Lust am braven | |
Mahlzeiten-Zubereiten verlieren, dass im bislang stolz ungenutzten | |
Gefrierfach nun Pommes lagern, Dumplings und Tortellini. Wir stehen immer | |
später auf, die Kinder gehen immer später ins Bett. | |
Sie müssen ihren „Corona-Plan“ – einstmals von uns als | |
Schul-Sport-Kunstprogramm eingeführt – streng befolgen, und wenn die | |
[2][„Sendung mit der Maus“] noch nicht gesehen und die acht Runden | |
Mariokart noch nicht gefahren sind, ist das Tagwerk nicht vollbracht. | |
Aber etwas ändert sich doch, am Wochenende: Es kollabiert das eherne | |
Abstandsgesetz. Gefühlt kein Schwein hält sich mehr an die Einsfünzig, | |
nicht auf dem Trottoir, nicht beim Radeln, nicht beim Schlangestehen. | |
Besonders den U-40-Jährigen scheint die neue Lust am Achtsamsein völlig | |
abhandengekommen zu sein. | |
## Sie tauschen empörte Blicke | |
Die Kinder in ihrem diktatorischen Regelflow sind entrüstet. Sie tauschen | |
empörte Blicke, ziehen scharf die Luft ein, erwarten, dass ich die holzigen | |
Mitmenschen ermahne. Ich sage nur dumpf: „Zieht doch bitte, wenn wir gleich | |
bei Getränke Hoffmann Apfelsaft kaufen, eure schönen Masken an, ja?“ | |
Derweil lädt die Bürogemeinschaft zum „Zoom-Plaudern“, die alte Schule zum | |
„Virtuellen Klassentreffen“ und die Kita zum „Morgenkreis im Zoom-Meeting… | |
Ächz. | |
Es taugt mir alles nichts, selbst den Kindern nicht, sie würgen | |
mittlerweile ihre Schul- und Kitafreund*innen nach zwei Minuten am Telefon | |
ab und wollen nicht mal mehr mit Oma und Opa skypen. Zum Glück hängen auf | |
der Reuterstraße noch analoge, handfest besprayte Transpi-Laken aus den | |
Fenstern: [3][#leavenoonebehind]. Ich fürchte aber, die politisch | |
Verantwortlichen haben trotzdem nicht begriffen, worauf sich diese so vage | |
wie fremdsprachige Forderung bezieht und dass fast 50 Kinder aus | |
Griechenland nicht reichen. | |
Auf der Pannierstraße künden sonnengebleichte Plakate von einer | |
Vergangenheit, die nie stattgefunden hat. Pantha du Prince in der | |
Volksbühne, Ende März, ich wollte hin, um mir anzugucken, ob der heuer | |
zottelige Hendrik Weber noch ein My seiner ehedem auf Sankt Pauli so | |
berückenden Schönheit bewahrt hat. Das Konzert wurde verschoben. Es ist | |
allerdings vorstellbar, dass mir die Überprüfung des äußeren | |
Erscheinungsbilds von Herrn Weber im November nicht mehr wichtig genug für | |
eine Fahrt nach Mitte sein wird. | |
Derweil fegen Staubstürme durch die Parks, die Lippen springen auf in der | |
sengenden Aprilsonne, die Böden zeigen Risse, die Waldbrände kommen näher, | |
die Apokalypse entfaltet sich vielgestaltig. „Gieß doch einfach wieder die | |
Straßenbäume“, rät der Mann, rät die Therapeutin. Mach ich. Die Kinder | |
finden es lustig, weil ich auf dem Weg nach draußen, zwei Putzeimer | |
schleppend, in der Tordurchfahrt Wasser verschlabbere. | |
22 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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