# taz.de -- Nachts in Corona-Zeiten: Fliehender Schlaf | |
> Um drei Uhr früh unterwegs in den verlassenen Straßen Berlins. Die | |
> Nachtigallen singen und langsam zieht die Dämmerung auf. | |
Bild: In Corona-Zeiten singen sie ungestört vom Partyvolk: Berliner Nachtigall… | |
Der Nachbar steht in der Tür, auf der anderen Seite des Flurs. Mit drei | |
Meter Abstand tauschen wir uns aus über die Albträume der letzten Nacht. | |
Er, der als Lehrer arbeitet, träumte von einer vermasselten Videokonferenz. | |
Ich von einer Interviewsituation, leibhaftig, in der ich mit ausgestreckter | |
Hand auf meine Interviewpartnerin zutrete und mit erschrockenem Blick tippt | |
sie mit einer Fingerspitze auf meinen Handteller – und erst beim Erzählen | |
fällt es mir wieder ein, was da falsch war: Corona, Abstand halten, kein | |
Händeschütteln. | |
Trotzdem bin ich nach dem Traum aufgewacht, so gegen drei Uhr, und als es | |
halb vier war, immer noch nicht wieder eingeschlafen. Was mach ich jetzt? | |
Ich denke an meine Mutter, die dann nachts aufstand, ein Kreuzworträtsel | |
löste und einen kleinen Schnaps trank. Auf Schnaps habe ich heute keine | |
Lust, die Rätsel sind verbraucht. Die Beine mit Franzbranntwein einreiben | |
und Baldrian schlucken hat letzte Nacht schon nicht geholfen. | |
## Der angekündigte Meteoritenschauer | |
Da fällt mir ein, für diese Nacht war ein Meteoritenschauer angekündigt. | |
Das zu sehen ist mir in Berlin noch nicht gelungen. Also rein in die | |
Klamotten und raus. Spazieren gehen, einen weiten Himmel suchen, Dunkelheit | |
abseits der Häuser. | |
So leer waren die Straßen lange nicht mehr. Tagsüber hat sich mein Blick | |
empfindlich verändert, er scannt die Straßen und Parkwege ab nach | |
Körperverdichtungen und Menschenverklumpungen, das hat schon ein bisschen | |
was von Hysterie. Aber jetzt, kaum einer da. Ich laufe erst vor zur | |
Julius-Leber-Brücke, S-Bahnhof in Berlin Schöneberg, und da höre ich sie, | |
die Nachtigallen. | |
Laut, klar, ein Frage-und-Antwort-Spiel von mehr als einem Paar. Dass | |
Berlin die Hauptstadt der Nachtigallen genannt wird und sie hier singen, | |
wusste ich zwar, aber so ungestört von Nebengeräuschen nehme ich sie jetzt | |
zum ersten Mal wahr. | |
## Meteoriten sind aber keine zu sehen | |
Über eine Stunde bin ich unterwegs, über leere Wege am Park um den | |
ehemaligen Gasometer, tagsüber belebt, seit es ihn gibt, und die letzten | |
Wochen noch mehr, trotz der Absperrbänder um Spiel- und Sportgeräte. Oft | |
lege ich den Kopf in den Nacken, schaue in alle Richtungen in den Himmel, | |
aber Meteoriten sind keine zu sehen. | |
Die Lichter sind auch zu hell, an den Radwegen geradezu taghell. Dafür | |
Klangwolken von Nachtigallen, hier im kleinen Park, später an der | |
S-Bahn-Trasse und in einer Laubenkolonie, deren Obstbäume selbst im Dunkeln | |
schimmern. | |
Wenn das so weitergeht mit dem abgedämmten Leben, dem Zuhausebleiben auch | |
in den Ferien, dem reichen Publikumsverkehr auf allen schönen Spazierwegen, | |
na ja, das scheint ja alles sehr wahrscheinlich, dann sollte ich | |
vielleicht, so kreisen die Gedanken, mehr in der Nacht rumgehen? Zumal die | |
Dämmerung kommt, die Lieferwagen zu den Bäckereien sind die Ersten, die ich | |
sehe. | |
## Ich, der Nichtnachtlebenmensch | |
Ich denke an die Clubgänger, die dieses Erlebnis, was mir jetzt so | |
besonders scheint, vermutlich oft auf ihrem Heimweg hatten, aber eben vor | |
Corona, und bei mir, einem Nichtnachtlebensmensch, passiert es erst mit | |
Corona. Schlaflosigkeit, das trifft auch andere in diesen Tagen. Das sind | |
keineswegs nur die Sorgen, ich denke, es ist auch einfach das | |
Zuhausebleiben und -arbeiten. | |
Ein Märchenbild taucht vor mir auf von den Lebensgeistern, die mit uns | |
unterwegs sind, dies und das beschnüffeln, betasten, Wichtiges und | |
Unwichtiges wahrnehmen, auf dem Weg zur Arbeit, mit den Kollegen, mit | |
Freunden, beim Essengehen und sich dabei an einer Vielfalt von Eindrücken | |
und Zufällen nähren. | |
Und die nun, zurückgewiesen auf die eigenen vier Wände, an der Glätte des | |
Bildschirms abprallen und schrumpeln. Ich sehe sie vor mir, wie kleine, | |
vertrocknende Zwerge, sie zappeln und winken mir zu und entfernen sich | |
immer weiter. Und nachts, da fehlen sie, als Hüter des Schlafs, und | |
tagsüber, da fehlen sie genauso, als Impulsgeber. | |
27 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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