# taz.de -- Leben in Corona-Zeiten: Eine absurde Lotterie | |
> Gesunde Menschen erkennt man daran, dass sie nicht viel über die | |
> Ungleichheit der Corona-Betroffenheit nachdenken. Oder sind das | |
> Soziopathen? | |
Bild: Heute Nachmittag aber „Schwimmschule“. Denn noch kann ich hin | |
Der Schlosspark Charlottenburg in Berlin war noch nie so voll. Wie ein | |
Tourist, der sich über Touristen aufregt, bin ich von den ganzen Menschen | |
irritiert, denen wie mir nichts Besseres eingefallen ist, als hier | |
spazieren zu gehen. Spazieren gehen fühlt sich jetzt an wie Auto fahren. | |
Vorausschauendes Gehen, um die Distanz zu wahren: Ah, [1][der Jogger wird | |
seine Bewegungsrichtung garantiert um keinen einzigen Grad ändern], denn | |
das könnte er nicht mit seinem Männlichkeitsentwurf vereinbaren, dann | |
weiche ich lieber jetzt schon ein wenig zur Seite aus. | |
Ganz übel ist das Seiteneingangstor zum Schlosspark, wo sich die Menschen | |
stauen wie Autos auf dem Stadtring (früher). Ich halte die Luft an, wenn | |
ich an jemandem etwas enger vorbeigehe. Luft anhalten ist bestimmt eine | |
nützliche Virenprävention. | |
Neulich habe ich im Park einen Freund getroffen, unerwartet, meine | |
Überraschung ließ mich Corona vergessen, und als ich ihn umarmen wollte, | |
wich er panisch zurück und formte – vielleicht bilde ich mir das auch nur | |
ein – mit seinen Fingern ein Kreuz. „Oh, klar, sorry“, sagte ich und wink… | |
dann ein bisschen, aus zwei Metern Entfernung, und fühlte mich komisch, | |
weil ja panisches Zurückweichen nicht die erhoffte Reaktion auf den Versuch | |
einer Umarmung ist, ob mit oder ohne gekreuzten Fingern. Aber natürlich die | |
richtige, verantwortungsvolle Reaktion gerade. Freundschaft in Zeiten von | |
Corona. | |
Als es losging mit der Pandemie, las ich überall, also auf Twitter, die | |
halbironische Erinnerung, Shakespeare habe damals die Quarantäne während | |
der Pest genutzt, um „King Lear“ zu schreiben. Die Implikation: Wie wirst | |
du nun Corona nutzen? Die Pandemie als Life-Hack: endlich genug Zeit für | |
ein Meisterwerk. Wenn nicht, um „King Lear“ zu schreiben, dann wenigstens, | |
um „King Lear“ zu lesen. | |
Ich kann mich gegen diesen Optimierungsimperativ nicht wehren – und bin | |
privilegiert, weil bisher unbetroffen, genug, um ihn in Handlungen | |
übersetzen zu können – und habe angefangen, den „Zauberberg“ zu lesen. | |
Gefällt mir gut bisher. Besser als „Faust II“, mein letztes Corona-Projekt. | |
Ich denke an Franz Kafkas berühmte Tagebuchnotiz vom 2. August 1914: | |
„Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.�… | |
Wie erlebe ich die Pandemie? Jeden Nachmittag „Schwimmschule“. | |
## Sollte ich mich schlecht fühlen? | |
Während auf Intensivstationen Menschen mit dem Tod ringen, ringe ich mit | |
Goethe. Es ist eine absurde Lotterie. Aber im Aushalten dieser Ungleichheit | |
habe ich Übung, wie andere auch, und gesunde Menschen erkennt man daran, | |
dass sie sich über die Ungleichheit nicht zu viele Gedanken machen. Würde | |
ich sagen. Oder sind das Soziopathen, die man daran erkennt? Sollte ich | |
mich schlecht fühlen? Schlechter? | |
Gegen das schlechte Gewissen habe ich jedenfalls einen Zettel in den | |
Hauseingang gehängt: „Corona-Hilfe“, hier unsere Telefonnummer, liebe | |
Nachbarn und Nachbarinnen, falls Sie Hilfe beim Einkaufen brauchen. Dem | |
Nachbarsjungen gebe ich jetzt über Skype Gitarrenunterricht. Wenn seine | |
Gitarre gestimmt werden muss, treffen wir uns kurz im Treppenhaus. | |
Wenn ich in zehn Jahren Fiona Apple hören werde – „Fetch the bolt | |
cutters/I’ve been in here too long“ –, dann werde ich an diese Tage, an | |
diese Wochen, an diese Monate denken. Ich hoffe, es werden keine Jahre. | |
Jeden Tag schaue ich mir die neuen Zahlen an. Erkrankte, Verstorbene, | |
Genesene. Es wäre vermessen, nicht davon auszugehen, dass meine Freunde, | |
meine Frau oder ich nicht selbst irgendwo in der Tabelle auftauchen | |
könnten, früher oder später. Heute Nachmittag aber „Schwimmschule“. Denn | |
noch kann ich hin. | |
7 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jan Jekal | |
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