# taz.de -- Psychische Corona-Krise: Mein Leben als Baum | |
> Hypochondrische, dann panische Phasen wechseln sich mit Wut, Gelassenheit | |
> und Krisenbewältigung durch Textkonsum ab. Das geht wohl allen so? | |
Bild: Liebkosen mit Mundschutz vielleicht risikofreier? Jeder sieht eben das, w… | |
Das Leben stand still. Entscheidungen kippten ins Leere. Wurden auf | |
unbekannt verschoben. Immerhin, es war kurz vor Ostern, machten die ersten | |
ranzigen Bars in Berlin-Neukölln wieder auf. Oder, sagen wir, sie | |
verkauften aus dem Fenster heraus Drinks zum Mitnehmen, schön in | |
Weckgläsern und kleinen Fläschchen und Papiertüten verstaut. Woher kommt | |
eigentlich diese Mode, alles wieder in alten Kompottgläsern zu servieren? | |
Mein ehemaliger Mitbewohner nahm einen Negroni, ich begnügte mich mit einem | |
Jever Fun, weil ich die Gelegenheit des Lockdowns zu einem alkoholfreien | |
Monat benützen wollte. Wir gingen einmal um den Block, das heißt zur | |
Hobrechtbrücke und zurück. Alles schien normal. | |
Wir hatten zwar untergründig das Gefühl, etwas Illegales zu tun, aber die | |
Polizei, die in ihren blau-weißen Wagen gemütlich im Kiez herumschlich, | |
kümmerte sich weder um uns noch um die Bar, um die sich am frühen Abend | |
einige Leute auf Abstand versammelt hatten. Obwohl; eben nicht versammelt. | |
Die Bar wirkte dabei wie ein Stadionkassenhäuschen zu ganz alten Zeiten. | |
Sie hatte beschränkte Öffnungszeiten, und es schien, dass das, was sie | |
verkaufte, die Leute sehr glücklich machte. | |
Einige Passanten trugen Mundschutzmasken, die meisten nicht. Manche wirkten | |
gefährlich damit, andere, als ob sie sich freiwillig hatten knebeln lassen. | |
Ja, es sah aus, als stopften sie sich den Mund. Es war eine kranke Zeit. | |
Oder lag es an mir? Schließlich las ich inzwischen „Intensivstation“, wo | |
eigentlich nur „Institution“ stand. | |
Insgesamt hatte ich die Situation aber angenommen. So, wie PsychologInnen | |
es rieten. Aber die Krise kam und ging. In Wellen. Leichte hypochondrische, | |
dann verstärkt panische Phasen wechselten sich mit Wut, Gelassenheit und | |
Krisenbewältigung durch überzogenen Textkonsum ab. Das Übliche. Es ging | |
wohl allen so. | |
## Paare auf Picknickdecken | |
In kleinen, zaghaften Schritten näherte sich indes das normale Leben wieder | |
an. An den warmen Ostertagen erblühte es sogar. Blühende Landschaften: | |
Parks voller Paare auf Picknickdecken. Das war jedenfalls besser als das | |
Gefühl, Will Smith in „I am Legend“ zu sein, wenn man mit dem Rad über den | |
Pariser Platz fuhr. Systemrelevant, versteht sich. | |
Auch mein Lieblingscafé bot wieder Kaffee zum Mitnehmen an. Mit Schlange | |
vor dem Laden. Leute spielten Tischtennis auf den Steinplatten am | |
Weichselpark, dessen Spielplatz rot-weiß zugebunden war. Danach wurde eine | |
Runde Sagrotan spendiert. | |
In dieser Zeitung postulierte kürzlich der Psychoanalytiker Peter | |
Schneider, dass jeder das sehe, was er sehen möchte. Was bedeutete das für | |
mich? Warum löste die Bedrohung mit Krankheit so eine Angst aus? Ich gehöre | |
nicht zur Risikogruppe. Ich war gesund. Mit fünf hatte ich einmal | |
Windpocken. Eine Kinderkrankheit, die sich wie drei anfühlte, aber ich | |
hatte wirklich nur diese eine, wie meine Mutter auf Nachfrage bestätigte. | |
Gegen die anderen war ich geimpft. | |
Oder ging es um Todesangst? Klar, das Konzept „sterben“ war schon irgendwie | |
doof. Schon das Konzept „älter werden“ steht ja nicht zu Unrecht häufig in | |
der Kritik. Trotzdem gab es Leute, die von Todestrieben gesteuert von | |
„rauchenden Krematorien“ faselten und in ihren Kommentaren immer wieder die | |
italienischen Militärfahrzeuge heranfahren ließen, nur um das Angstlevel | |
auch schön hoch zu halten. Waren das Sadisten? Oder Masochisten, denen die | |
Maßnahmen einfach nicht streng genug sein konnten? Oder waren sie genauso | |
angstgesteuert, nur irgendwie anders? | |
15 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
René Hamann | |
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