# taz.de -- Alltag in Corona-Zeiten: Eigentlich sind jetzt Ferien | |
> Anstrengend, diese soziale Fragen! Kontaktverbot für Kinder, viele sind | |
> streng, andere haben eine „Virengruppe“ oder verabreden sich zum Rollern. | |
Bild: Kirschblüte in Berlin Prenzlauer Berg. Beliebt zum Spazieren. Abstand? S… | |
Nach exakt drei in Gesellschaft von Mann und Kindern zugebrachten Wochen | |
treffe ich eine Freundin zum abendlichen Spaziergang. Wir schreiten auf | |
Abstand, wagen kaum den Seitenblick und haben Schals vorm Gesicht. Wir | |
gehen drei Stunden lang, es ist nötig. Das berauschende Gefühl des | |
Fastverbotenen. Aber dann eine achtköpfige Jungspunt-Truppe, die über die | |
Brücke gezogen kommt, in enger Formation zum Ghettoblaster tanzt und | |
offensiv die Bierflaschen in die Luft reckt. Die aufsteigenden Gefühle – | |
Belustigung, Verständnis, Unverständnis, Düpiertheit, Wut – lassen sich in | |
ihrer Gleichzeitigkeit nicht verarbeiten. | |
„Wir rechnen mit weiterführenden Entscheidungen am 14. April“, schreibt der | |
Schulleiter in einer Rundmail. „Möge sich die Ausbreitung von Corona so | |
verlangsamen, dass wir schrittweise wieder zur Normalität zurückkehren | |
können.“ Schrittweise. Oooookay. Es ist warm, der nächste Dürresommer | |
kündigt sich an, alle radeln, rollern und bladen mit ihren Kindern durch | |
den Kiez. Über die einsfünfzig hinweg begrüßen wir andere Schul- und | |
Kitafamilien mit großem Hallo und beäugen uns: Wer dreht schon durch, wer | |
quillt schon auf, wer glaubt noch an den 19. April? Den 1. Mai? Das neue | |
Schuljahr? | |
Auf Facebook fragt ein Facebook-Freund: Wie haltet ihr’s mit dem | |
Kontaktverbot für eure Kinder? Viele sind streng. Andere aber haben eine | |
„Virengruppe“ oder verabreden sich zum Radeln, Rollern oder Bladen. | |
Schießen wir die Kinder in die Umlaufbahn der Einsamkeit? Sind wir doch | |
unsolidarische Säue, weil wir anderen Eltern in stressigerer Jobsituation | |
die Kinder nicht abnehmen? Spießer, weil wir uns so wohlfeil mit uns selbst | |
begnügen? Wie anstrengend, diese sozialen Fragen! Könnte das mit dem strikt | |
verordneten Distancing bitte doch noch etwas länger dauern? | |
Der Betreiber des „Ersten Antirassismus-Späti der Welt“ auf der | |
Reichenberger Straße hat einen Zettel ans Fenster gehängt. „Brauchst du | |
Hilfe? Do you need help?“ Und dann, so schlicht wie ergreifend, vier | |
Telefonnummern: vom Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen, vom Kinder- und | |
Jugendtelefon, von der Hilfenummer Depression und der Telefonseelsorge. Ich | |
korrigiere meine selbstgefälligen Wünsche: Das mit dem Distancing soll | |
bitte doch ganz schnell vorbei sein. | |
## McDrive hat viel zu tun | |
Flucht vor all den Ambivalenzen, in die Uckermark, zur Minidatsche in | |
siebter Reihe am See. Ab Lanke sind wir allein auf der Autobahn. Es ist wie | |
in einem postapokalyptischen Film. Wir schleifen Bretterböden ab, pinseln | |
Bretterwände an, pflanzen Beerensträucher und eine Kriechende Säckelblume, | |
schaffen den Kindern eine Zukunft. Das Gras auf der Wiese ist jetzt schon | |
vertrocknet. | |
Wir sind zu spät zurück in der Stadt, um noch die Süßkartoffeln in den Ofen | |
zu schieben. Nach all den Wochen mit drei gestemmten Mahlzeiten pro Tag | |
knicken wir ein und stellen uns in die McDrive-Schlange. Hinter uns stehen | |
Radler. Die Mitarbeiter sind ganz rotglasiert im Gesicht und meinen, so | |
viel hätten sie noch nie zu tun gehabt. | |
Vor lauter Stress stopfen sie Jalapeños in die Cheese-Burger der Kinder. Zu | |
Hause gibt es zusätzlich zum Papiermüllberg Tränen. Wir überkompensieren am | |
nächsten Tag und kochen Vulkanspargel aus dem Biomarkt. Wieder gibt es | |
Tränen. Erst der Lidl-Backcamembert bringt die Dinge halbwegs ins Lot. | |
Unser Corona-Wochenplan am Kühlschrank wird nicht aktualisiert. Eigentlich | |
sind jetzt Ferien. Sagen wir den Kindern aber nicht. Nach Gusto und | |
Notwendigkeit streuen wir Schulstunden in die Tage. Verteilen Aufgaben, | |
klappen das MiniLük auf, starten die Anton-App, rühren den Klangstab als | |
Schulglockenersatz. Etappenziel Karfreitag. Da sendet radioeins 14 Stunden | |
am Stück „Songs für die Seele“, Motto: Emotional Rescue. | |
8 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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