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# taz.de -- Resilienz gegen Corona: Auf der Schwangeren Auster
> Es ist so schön ruhig wie früher und im Tiergarten kann man noch machen,
> was anderswo untersagt ist. Nur die Mitte-Schnuffis nerven weiter.
Bild: Eine Wiederentdeckung in Corona-Zeiten: Radfahren im Berliner Tiergarten
Leere Straßen und eine göttliche Stille. Nicht ein Ton einer
Freejazz-Improvisation dringt aus der Kneipe unter mir, kein Bassgewummer
aus dem Kellerclub lässt die Wände meiner Wohnung vibrieren. Es ist das
erste Mal seit Jahren, dass ich ohne Ohrenstöpsel schlafen kann. Irgendwie
wie früher, als Berlin ein großes Dorf und noch keine Großstadt war, und
wir kurz nach dem Mauerfall in Ostberlin auf der Straße vor dem Haus
Federball spielten, weil sowieso kein Auto vorbei kam.
Nur dass man sich jetzt möglichst drinnen aufhalten soll. Mich zieht es
nach den grauen Wintermonaten aber nach draußen. Gefährde ich damit mich
und andere, sogar wenn ich äußerst vorsichtig bin? Das ständige schlechte
Gewissen, irgendwas falsch zu machen, nervt genauso wie die Angstpanik, von
der man sich nicht ganz frei machen kann. Habe ich mir lange genug die
Hände gewaschen? Ist mir der Typ vorhin beim Einkaufen vielleicht zu nahe
gekommen? Und fass' Dir bitte nicht ständig ins Gesicht, liebe Tochter!
Was soll’s – ab an die frische Luft. Die meisten, die draußen unterwegs
sind, sind auf der Suche nach einem Stück Grün, einem Platz an der Sonne,
wo sie sich mit gebührendem Sicherheitsabstand zu den anderen niederlassen.
Ich habe den Tiergarten wiederentdeckt, in dessen unmittelbarer
Nachbarschaft ich aufgewachsen bin.
## Wem gehört die Welt? Uns!
Damals war das geschwungene Dach vom Haus der Kulturen der Welt noch nicht
so gesichert wie heute – und wir sind als Jugendliche manchmal heimlich
nachts die Betonschrägen der Schwangeren Auster hochgeklettert, um es uns
an der höchsten Stelle mit Gitarre und einer Flasche Wein gemütlich zu
machen. Wem gehört die Welt? Uns!
Jetzt fahre ich jeden Nachmittag nach dem Homeoffice mit dem Fahrrad vom
Friedrichstadtpalast die Rheinhardtstraße hinunter, dem in ein unwirtlich
klares Sonnenlicht getauchten Regierungsviertel entgegen. Arbeitet hier
überhaupt noch jemand? Es ist so ruhig, dass man es kaum glauben mag.
Direkt unter den Augen von Angie lasse ich mich auf der
Steinskulpturenwiese neben dem Kanzleramt nieder. Im Zentrum der Macht kann
man noch tun und lassen, was anderswo verboten ist – im Monbijoupark hatte
man uns jedenfalls das Federballspielen ebenso untersagt wie das Jonglieren
mit dem Ball, im Tiergarten schert sich keiner darum. Warum auch?
Es passt zu Berlin, dass der Bußgeldkatalog zwar ellenlang und bürokratisch
verklausuliert ist, seine Anwendung aber bisher glücklicherweise weniger
preußisch ist und einem gewissen Laissez-faire unterliegt. Bestimmte Regeln
zu brechen, das gehörte im widerspenstigen (West-) Berlin lange zum guten
Ton, damit sind wir groß geworden.
## Gelebte Ambiguitätsresilienz
Eine rote Ampel? Wozu warten, wenn kein Auto weit und breit zu sehen ist?
Ein Fahrschein für die U-Bahn? Pah! Nulltarif für den Öffentlichen
Nahverkehr! Jetzt aber ist ein Moment, wo vor allem eine gewisse
großstädtische Smartness von Vorteil ist, Spontanität und Beweglichkeit, um
beim Fahrradfahren, beim Spazierengehen oder beim Joggen an der Spree
entlang die anderen und sich selbst durch eine resiliente Slalomtaktik zu
schützen.
Es ist ohnehin die Zeit für eine gelebte Ambiguitätsresilienz. Viele der
Schnuffis in Mitte können die allerdings nicht aushalten – und regen sich
lieber lautstark über alle auf, welche die Kontaktverbotsregeln auf der
Straße nicht so perfekt einhalten wie sie selber, kurz bevor es mit der
intakten Kleinfamilie zum Wochenendausflug zu ihrem Landhaus geht.
Doch wenn in einer Situation wie jetzt alle nur sich selber, aber weder
ihre eigenen Privilegien noch ihre Mitmenschen und deren Nöte sehen,
dann... Dann bleibe ich vorerst doch lieber zu Hause.
13 Jul 2020
## AUTOREN
Ole Schulz
## TAGS
Kolumne Berlin viral
Schwerpunkt Coronavirus
Stadtleben
Tiergarten
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