| # taz.de -- Wie es ist, Spargel zu ernten: Das große Bücken | |
| > Wer erntet dieses Jahr eigentlich den Spargel? Unsere Autorin hat selbst | |
| > Hand angelegt und mitgestochen. | |
| Bild: WG-Ausflug: Von Berlin aus ist der Spargelhof Kremmen eine Stunde mit dem… | |
| Ein Ingenieur, ein Ernährungscoach, ein Gerüstbauer, eine Studentin, ein | |
| Bühnenbildner und ein Taxifahrer sitzen in der Sonne und reden über Corona. | |
| Wie lange es wohl noch dauert, bis alles wieder normal sein wird, fragen | |
| sie sich. Aber hier an der frischen Luft sei es ja gerade ganz schön, sind | |
| sie sich einig. „Ein Gutes hat die Sache: Wir sitzen jetzt hier, haben uns | |
| kennengelernt und gemeinsam Spargel gestochen“, sagt der Ernährungscoach in | |
| die Sonne blinzelnd. Sein Grinsen bringt perlweiße Zähne zum Vorschein. | |
| Unter normalen Umständen hätten wir uns nicht getroffen. „Na doch, in einer | |
| Kneipe!“, sagt der sonst eher ruhige Bühnenbildner freudig. „Ich glaube | |
| nicht, dass wir alle in dieselbe Kneipe gehen würden“, entgegnet der | |
| Gerüstbauer und rückt sein Basecap weiter ins Gesicht. | |
| Der erste Stichtag beginnt auf dem sandigen Besucher:innenparkplatz des | |
| Spargelhofs im brandenburgischen Kremmen. Kleinwagen aus Berlin und dem | |
| Umland finden sich ein, ihre Fahrer:innen stehen in Wander- und Laufschuhen | |
| vereinzelt um die Wagen. Die meisten tragen Sonnenhüte und tauschen sich | |
| über leichtes Nicken und zurückhaltendes Lächeln aus. Eine Gruppe junger | |
| Menschen begrüßt sich per Fuß-Shake. Der Tag ist noch jung und kühl, doch | |
| die Luft ist dicht von Frühlingspollen und Spannung. | |
| Es hätte die deutsche Landwirtschaft schlimmer treffen können. Ursprünglich | |
| hieß es, sie müsse wegen der Einreisebeschränkungen während der | |
| Coronapandemie vorerst komplett auf [1][Erntehilfe aus Osteuropa] | |
| verzichten. Inzwischen sind nun doch 23.500 Saisonarbeitskräfte aus dem | |
| Ausland gemeldet, um die Arbeit zu machen, die in Deutschland niemand | |
| machen will. Wer dieser Tage auf die Spargelfelder schaut, begreift, dass | |
| diese Menschen nicht bei der Ernte helfen. Sie vollziehen sie. Bestenfalls | |
| zum Mindestlohn und nicht mehr als neun Stunden pro Tag. Im schlimmsten | |
| Fall, das zeigt die Geschichte eines an Covid-19 [2][verstorbenen | |
| Erntehelfers in Baden-Württemberg], geben sie für den Spargel ihr Leben. In | |
| dieser Saison werden Menschen aus Deutschland zum ergänzenden Provisorium. | |
| ## Für alle absolutes Neuland | |
| Wie wir alle war auch Ben Knüppel noch nie auf einem Spargelfeld, doch | |
| vielleicht weiß er eher, auf welch körperliche Belastung er sich einlässt. | |
| Er ist Gerüstbauer. Jedes Jahr im Sommer schleppt, hievt und schraubt er | |
| Metallteile in der Hitze, um Häuser zu renovieren, in denen er sich zu | |
| wohnen nicht leisten kann. Jedes Jahr im Winter wird ihm gekündigt. „Dann | |
| arbeite ich nicht oder hacke Holz für die Reichen“, sagt er. Einmal habe er | |
| auch während des Weihnachtsgeschäfts für Amazon gearbeitet. Was in der | |
| Soziologie als Paradebeispiel für schlechte Arbeit geführt wird, nennt er | |
| „gar nicht so übel“, schließlich gäbe es kostenlose Weiterbildungen und | |
| Weihnachtsfeiern. Da Knüppel weder Auto noch Fahrrad dabeihat, nimmt der | |
| junge Bauer Yule Zebe ihn Social Distancing zum Trotz in seinem weißen | |
| Geländewagen mit auf das Feld. | |
| Auf dem Feld angekommen, wirft Jungbauer Zebe zwei Lagen Folie von einem | |
| eckigen Sandhügel. An einer Stelle des Hügels ragt eine kleine | |
| Spargelspitze aus dem Damm. Zebe kellt alles kopfabwärts mit wenigen | |
| Handbewegungen frei. Nun liegt die Spargelpflanze seitlings frei, wie auf | |
| einer Abbildung im Biologiebuch. Der Bauer wird zum Lehrer. „Ihr müsst | |
| wissen, was unter der Erde passiert“, sagt er. Oben ist die Spitze, sie ist | |
| sehr empfindlich. Darunter die Stange, sie wächst sieben Zentimeter pro | |
| Tag. An ihrem Ende die Mutter. Verletzt niemals die Mutter, sonst ist die | |
| Pflanze kaputt. Stecht nicht zu kurz, sonst gibt es einen Qualitätsverlust. | |
| Brecht nicht die Spitze ab, sonst gibt es einen Qualitätsverlust. Klopft | |
| die Erde danach gut fest, sonst hat der nächste Spargel einen | |
| Qualitätsverlust. Yule Zebe referiert eher hingebungsvoll als mahnend. „Man | |
| kann sehr viel falsch machen beim Spargelstechen“, resümiert er. | |
| Der vorgeschriebene Sicherheitsabstand ist schon beim Verteilen der gelben | |
| Arbeitshandschuhe, Stechmesser und Kellen passé. Der soziale Abstand | |
| schwindet in Kleingruppen auf dem Feld. | |
| Ben Knüppel probiert sich mit Ludwig Straube, dem Ingenieur, im | |
| Spargelstechen. Die Tattoos auf Knüppels Unterarmen und Händen erzählen | |
| Geschichten – aus der linken Szene, der Bikerszene und dem Knast. Straube | |
| erzählt, dass er in seiner Freizeit gern segelt. Und ich bin in ihrer | |
| Mitte, um später eine Geschichte zu erzählen. | |
| ## Arbeiter meets Akademikerin | |
| Knüppel ist ein Arbeiter, seine Eltern: eine Erzieherin und ein Polizist, | |
| gegen den er immer zu rebellieren versuchte. Straube ist ein Ingenieur auf | |
| Jobsuche, seine Eltern sind Musiker:innen, die ihn nach Ludwig von | |
| Beethoven benannt haben. Ich bin eine Reporterin mit Uniabschluss und | |
| Eltern aus der Krankenpflege. Nun sind wir alle hier auf dem Feld. Wir sind | |
| Nummern, deren Köpfe sich einen halben Meter über der Erde auf Augenhöhe | |
| begegnen. | |
| „Ich hab Lust, mal richtig auf Tempo zu machen hier!“, sagt Straube offen | |
| und enthusiastisch. „Das ist lächerlich zu dem, wat ick sonst mache“, sagt | |
| Knüppel ohne Abfälligkeit. Wir teilen uns eine grüne Erntekiste und stapeln | |
| darin unsere ersten Stangen. | |
| Am Mittag hat sich der Frühling auf 20 Grad aufgewärmt und röstet uns | |
| zwischen schwarzen Wärmefolien. Die Saison wurde heute eröffnet. In den | |
| nächsten Wochen wird es noch heißer werden. Während Ludwig Straube und ich | |
| nicht einmal daran gedacht haben, Wasser mit auf das Feld zu nehmen, zieht | |
| Knüppel eine Thermoskanne mit Kaffee aus seinem Rucksack. Er bietet mir | |
| eine von zwei Tassen an. „Die habe ich desinfiziert“, sagt er. | |
| Knüppel ist einer dieser Menschen, deren Alter sich schwer schätzen lässt. | |
| Er hat jungenhafte Züge und ist doch vom Leben gezeichnet. Wenn man ihn | |
| fragt, erzählt er vom Steineschmeißen, was ihn ins Gefängnis brachte, von | |
| Luftschüssen, die ihn vor Bedrohungen nach dem Aussteigen aus der | |
| Bikerszene schützten. „Man darf niemals Schwäche zeigen“, sagt er. | |
| Rechtsradikale Hiphop-Zecke haben wir Menschen wie ihn, die sich zwischen | |
| den Szenen bewegen, in der brandenburgischen Stadt, aus der ich komme, | |
| früher genannt. In Brandenburg gibt es weite Felder und kleine Orte. Es | |
| gibt wenig Menschen, die anders sind, und sie verschwimmen manchmal zu | |
| einer Suppe. In Brandenburg ist die Welt begrenzt. Wer rausgeht, um mehr zu | |
| sehen, kommt selten zurück. Knüppel hätte einer dieser Kumpels sein können, | |
| von denen ich mich distanziert habe, aus deren Alltag ich herausgewachsen | |
| bin. | |
| Ist dieser Tage ein Riss in der sozialen Distanz, bricht die Mauer schnell | |
| ein. Es ist, als mache uns die Zurückgezogenheit offener. | |
| „Gehörst du heute eigentlich auch noch einer Szene an?“, frage ich Knüppe… | |
| „Nee, aber ich steh schon auf der anderen Seite, sag ich mal“, sagt er mal. | |
| Er erzählt Dinge, die angeblich im Parteiprogramm der Grünen stünden, und | |
| von zahlreichen Überfällen durch Flüchtlinge. Es hätte ebenso jede andere | |
| Gruppe sein können, die er nicht als zugehörig ansieht. Scheiße, jetzt bin | |
| ich mit einem Nazi auf dem Spargelfeld, denke ich. „Na, da schau mal lieber | |
| direkt im Parteiprogramm der Grünen nach und nicht bei denen, die das | |
| behaupten“, sage ich. Und da wir nun hier sind und ich mich zwischen Ludwig | |
| Straube, zwei Spargeldämmen und einem Handkarren auf dem Feldweg gefangen | |
| sehe, frage ich: „Aber wie sieht es denn bei dir auf dem Bau aus?“ | |
| Ein Freund erzählte mir kürzlich, wie viele Faschos es im Gerüstbau gibt. | |
| So viele, dass er den Job nicht mehr machen möchte. In Berlin sieht es | |
| inzwischen etwas anders aus. Wahrscheinlich ist das Bild auf Knüppels | |
| Baustelle in mancher Hinsicht diverser als das in meiner Redaktion und | |
| vielleicht auch Straubes späteren Ingenieurbüros. Sein letztes | |
| Vorstellungsgespräch war bei einem Jachten-Hersteller. | |
| ## Politik zwischen dem Stechen | |
| Knüppel sagt, er sei für eine geregelte Einreise. Ich will weg. „Es ist | |
| so“, setzt er an. Ich spüre die Anstrengung, dabei ernsthaft zuzuhören. | |
| „Früher habe ich 22 Euro die Stunde verdient. Heute holt die Firma Leute | |
| aus Rumänien, packt sie zu zehnt in eine Einraumwohnung und zahlt ihnen | |
| vier Euro fuffzich. Das macht den Lohn für alle kaputt.“ Was soll ich | |
| sagen? Das ist beschissen, aber wer am wenigsten dafür kann, sind die | |
| Rumänen. Das sage ich Knüppel und frage: „Gibt es denn keine Möglichkeit, | |
| sich gemeinsam zu organisieren?“ Der sagt: „Ich hab es versucht, bin zum | |
| Chef gegangen. Das ist ja für alle scheiße. Der meinte, ich kann froh sein, | |
| dass ich noch hier bin. Für meinen Preis kriegt er zwei von denen, hat er | |
| gesagt.“ Ich sage: „Die Antwort darauf ist doch aber nicht, das Symptom zu | |
| bekämpfen, sondern das System anzugreifen. Dafür braucht es vernünftige | |
| linke Politik.“ Er fragt: „Gibt es die?“ | |
| Der Vorarbeiter unterbricht uns: „So, die Reihe noch, dann ist koniec.“ Das | |
| polnische Wort für Schluss. | |
| Auf den letzten Metern tauschen sich die Leute auf dem Feld über ihre | |
| Motivation aus, die bei der Bewerbung zum Spargelstechen nicht gefragt | |
| waren. Der Ernährungscoach habe eine Wette am Laufen. Eine Frau, die | |
| derzeit auf Kurzarbeit gestellt ist, sagt: „Ich wollte wissen, wie das | |
| geht. Ich esse Spargel so gern!“ Von finanzieller Not spricht niemand | |
| direkt. Knüppel sagt: „Ja, aber jetzt rechne mal nach, was da bei den | |
| Stechern bleibt.“ Er überschlägt: Bei ein bis zwei Kisten pro Stunde | |
| bleiben pro Kilo 30 Cent bei der Ernte. | |
| Zum Schichtende rechnen einige. Eine Gruppe junger Studierender aus | |
| Birkenwerder zum Beispiel, dass in der Saison 400 Euro Fahrtkosten anfallen | |
| werden. Würde es sich finanziell lohnen, ein Zimmer zu mieten anstatt jeden | |
| Tag zu fahren? Während die rumänischen und polnischen Arbeiter:innen, von | |
| denen wir bisher nur gehört und nichts gesehen haben, in Baracken auf dem | |
| Betriebsgelände wohnen, gibt es für die Deutschen aus Sicherheitsgründen | |
| keine Unterkunft. | |
| ## Nicht alle nehmen ungelernte Helfer:innen | |
| Manche Bauern verzichten auf ungelernte Erntehelfer:innen aus Deutschland. | |
| Die bekommen zwar wie die Saisonarbeiter:innen aus Rumänien und Polen den | |
| Mindestlohn, doch sie sind nicht nur langsamer, sondern gar ein Risiko für | |
| die Erntequalität. Der Spargelhof Kremmen geht das Risiko dennoch ein. Es | |
| ist kein Akt der Solidarität, weder von dem Hof noch von den Helfenden. Die | |
| Coronakrise stellt vieles infrage. Die Antworten sind pragmatisch wie | |
| provisorisch, aber nicht revolutionär. Und doch kann aus ihnen etwas | |
| entstehen, das mit gewohnten Mechanismen bricht. | |
| Der zweite Probetag beginnt kalt und unruhig. Angeführt von Bauer Yuli | |
| Zebe, wechseln wir in Autokolonne über eine schmale Landstraße auf ein vier | |
| Kilometer entferntes Feld. Dabei passiert die Kolonne einen Schulbus, neben | |
| dem Arbeiter:innen stehen. Ihre Blicke folgen uns aus den regungslosen | |
| Köpfen. | |
| Ben Knüppel kommt zu spät. Nach 36 Kilometern Arbeitsweg mit dem Fahrrad | |
| hatte er kurz vor sieben, kurz vorm Ziel, einen Platten. Als er dennoch | |
| pünktlich am verabredeten Feld ankam, waren schon alle weg. Am richtigen | |
| Feld angekommen, schweigen oder murren alle verschlafen, Knüppel berichtet | |
| aufgekratzt: „Ick hab mich jefragt, ob ick jetzt völlig verrückt bin. Der | |
| Kleene, Ludwig, ist doch an mir vorbeijefahren.“ Er wollte eine Zigarette | |
| rauchen, habe aber die Blättchen vergessen. Kaffee hat er auch nicht dabei, | |
| „es war arschkalt, der wäre doch niemals warm hier anjekommen!“ Ein Mann, | |
| der sich von Rockern nicht kleinkriegen lässt, verliert die Ruhe bei der | |
| eigenen Unpünktlichkeit. | |
| Knüppels Telefon unterbricht seinen Redefluss. Er streift einen der gelben | |
| Handschuhe ab und geht ran. „Nee, alles gut, ick hab das Feld jefunden“, | |
| sagt er ins Telefon und dann weiter zu mir: „Ick hab dann die Polen auf dem | |
| Feld jefragt, ob jemand ’ne Ahnung hat, wo ick hinmuss, und die haben mir | |
| fünf Telefonnummern von irgendwelchen andern Polen jegeben, die mich jetzt | |
| anrufen.“ | |
| ## Zweiergrüppchen im Wind | |
| Alle greifen sich einen Handwagen mit einer grünen Kiste. Die | |
| Ambitionierten greifen sich gleich zwei, denn heute muss geleistet werden. | |
| Jede:r hat nun eine eigene Personalnummer für die eigenen Kisten. Jede:r | |
| hat einen eigenen Damm, zwei Leute teilen sich einen Weg. Der Ingenieur | |
| Ludwig Staub und ich laufen nebeneinander, werden dann aber aufgeteilt. So | |
| lande ich mit Ben Knüppel auf einem Weg zwischen zwei gegenüberliegenden | |
| Dämmen. | |
| Der Wind wirbelt mir Sand ins Gesicht. Knüppel greift in seinen Rucksack | |
| und gibt mir ein rotes Bandanatuch, wie auch er es heute trägt. Ich binde | |
| es um den Kopf. Die Arbeit ist hart, das haben alle gesagt. Doch obwohl | |
| meine Muskeln trainiert sind, weiß ich nicht, wie ich das acht, neun oder | |
| auch nur drei Stunden aushalten soll. 3.000- bis 4.000-mal bücke man sich | |
| hier pro Tag, hieß es zur Einarbeitung. Knüppel sieht sich zu den anderen | |
| Reihen um und sagt: „Guck mal, wie weit vorne die alle schon sind.“ „Ja, | |
| aber manche haben auch mehr und andere weniger Spargel auf dem Damm“, sage | |
| ich und schaue zur Nachbarin, aus deren Damm unzählige weiße Köpfe | |
| aufleuchten, wie Pilze auf einer Waldlichtung. Sie muss sich weniger | |
| bewegen und hat mehr Spargel, was gut ist, aber sie ist am weitesten | |
| hinten. Das ist nicht gut für den Kopf, beim Kopf-an-Kopf-Rennen. | |
| Der Wind trägt Flüche quer über das Feld. Wir sind alle langsam. Der | |
| Spargel ist schon beim Stechen holzig und wächst schief. Nach dem, was wir | |
| bisher wissen, hat vorher jemand nicht akkurat genug gestochen. Ich denke | |
| an Immanuel Kant. Knüppel sagt: „Das ist doch scheiße. Man sieht genau, | |
| hier hat jemand nicht ordentlich gearbeitet“, und dann: „Das ist bestimmt | |
| ein Feld, auf dem eine andere Übungsgruppe war.“ | |
| ## Ohne Team kein Bonus | |
| Beim Spargelstechen ist jede:r auf sich gestellt. Und doch ist es | |
| unsichtbare Teamarbeit, denn die Leistung ist nicht nur von der eigenen | |
| Geschwindigkeit abhängig. Man sieht den Stängeln an, ob sich die Person | |
| zuvor die Zeit genommen hat oder sich dem Zeitdruck hingab. Eine schnelle | |
| Ernte bringt Bonus, führt aber dazu, dass die neuen Stangen krumm | |
| nachwachsen. Es könnte einem egal sein. Doch wenn es allen egal wäre, würde | |
| nur noch krummer Spargel wachsen und niemand bekäme einen Bonus. | |
| „In 20 Minuten müsste die Kiste voll sein“, sagt Knüppel. Wir gucken in | |
| unsere Kisten, die – großzügig gemessen – zu einem Viertel gefüllt sind. | |
| Knüppel fragt mich, wo ich in Berlin wohne. „Ick kann mir das nicht mehr | |
| leisten“, schiebt er hinterher. Ich erzähle ihm vom Mieterschutz, der mir | |
| hilft, eine Rüge auszusprechen und zukünftig vielleicht weniger zu zahlen. | |
| „Echt, so ein Gesetz gibt es? Das ist ja stark“, sagt Knüppel. „Ja, und … | |
| ist keins, was die AfD machen würde“, entgegne ich. Das ist eine von vielen | |
| Spitzen, die Knüppel nicht an sich abprallen lässt. Es ist eins von vielen | |
| Gesprächen über Lebensrealität und Realpolitik. | |
| ## Von Profis lernen | |
| Wenn eine:r von uns schneller im Stechen wäre, könnten wir uns nicht | |
| unterhalten. Wenn eine:r mehr Spargel pro Meter hätte, auch nicht. In einem | |
| Abschnitt habe ich mehr Spargel. Als ich von meiner Arbeit aufblicke, sind | |
| viele der vor mit liegenden Spargelköpfe freigeschaufelt. Als ich mal vorn | |
| liege, mache ich selbiges auf Knüppels Damm. Ich nehme ihm die gestochenen | |
| Stangen ab, um sie in der Kiste zu verstauen. Wer vorn ist, hebt die Folien | |
| beider Dämme auf. Wer hinten ist, deckt beide wieder zu. Ich vergesse | |
| manchmal, welche Box mir gehört, denn wir haben uns unausgesprochen auf ein | |
| Miteinander geeinigt. | |
| In der Mittagspause sitzt Ludwig Straube im offenen Kofferraum seines Autos | |
| und isst frische Salamibrötchen, von der Dorfbäckerei. „Die hat sie mir | |
| gerade geschmiert“, sagt er freudig. Straube freut sich gern, wirkt aber | |
| auch erschöpft. Er nimmt einen Bissen von einem Apfelkuchen, der aussieht, | |
| als habe ihn seine Oma gebacken. „Jetzt bin ich zufrieden: Gut was | |
| geschafft, ein bisschen Rückenschmerzen“, sagt er. „Echt? Ich nicht“, sa… | |
| Knüppel. „Na ja, du bist ja auch nicht so verweichlicht wie wir. Sechs | |
| Jahre Uni ist nicht wie Gerüstbau.“ | |
| Der zweite Teil des Arbeitstags wird hart. Nicht nur, weil sich die Sonne | |
| sich durch die graue Decke drückt. Auch, weil Ben Knüppel auf dem Fahrrad | |
| nach Fehrbellin zu seiner Tochter sitzt. Zum Abschied hat er mir seine | |
| Telefonnummer gegeben, „falls du nicht wiederkommst“. Allein ist die Arbeit | |
| eine andere. | |
| Fünf Uhr am Nachmittag ist Schichtende für die deutschen Erntehelfer:innen. | |
| Die Sonne tönt die staubige Luft in ein warmes Orange und legt sich auf die | |
| Folien, die über den Erdhügeln wehen. Nach dem ersten vollen Arbeitstag | |
| stehen alle am Feldrand in einer Traube. Distanz wird nur noch gehalten, | |
| wenn der Schichtleiter daran erinnert. Sie resümieren ihren ersten vollen | |
| Arbeitstag, sind zufrieden. Die Schnelleren haben gerade einmal eine halbe | |
| Kiste pro Stunde gefüllt. | |
| „Guck dir das an!“, ruft jemand aus der Traube. Die ganze Gruppe richtet | |
| ihre Blicke auf einen jungen Mann mit grünem Basecap. Er sticht in die | |
| walnussbraune Erde, jongliert mit weißen Stangen, wirft Erde in die Luft | |
| und klopft sie mit einer Kelle fest, bevor die Gravitationskraft sie | |
| anzieht. Die grünen Erntekisten hinter sich befüllt er händeweise in | |
| Sekundenschnelle. Seine Hände bewegen sich so schnell, dass es den Eindruck | |
| erweckt, er habe mindestens zwei an jedem Arm. Ludwig Straube schüttelt | |
| ungläubig den Kopf: „Als Bauer würde ich auch lieber ihn nehmen als mich.“ | |
| 26 Apr 2020 | |
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