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# taz.de -- Coronafreie Antarktis-Expedition: „Quarantäne ist hier normal“
> Keith Jacob ist Ingenieur und überwintert auf der Scott Base am Südpol.
> Die Antarktis ist der einzige Kontinent ohne Covid-19.
Bild: Müssen sich glücklicherweise nicht an Kontaktbeschränkungen halten: Ka…
taz am wochenende: Herr Jacob, wie war Ihr letztes Wochenende?
Keith Jacob: Sehr gesellig. Eine Reihe von Leuten aus McMurdo, der
US-amerikanischen Antarktisstation, kamen zum Dartsspielen vorbei, und
einige von uns gingen zu ihnen rüber zum Swing Dance. Ich kann mir hier
meine Zeit mit rund 180 Leuten vertreiben.
Klingt wie eine riesige Coronaparty. Keine soziale Distanz in der
Antarktis, dem einzigen Kontinent ohne Covid-19?
Wegen der Pandemie kann ich nicht mehr damit angeben, dass ich ein Jahr in
der Isolation auf dem Eis verbringe. Ich bin nichts Besonderes mehr
(lacht). Die Situation ist auf den Kopf gestellt. Wir sind hier
hingekommen, um eine Extremerfahrung zu machen, und jetzt sind wir weniger
von anderen abgeschnitten als die meisten Menschen auf der Welt.
Keine „bubbles“, wie die häuslichen Einheiten von Premierministerin Jacinda
Ardern genannt werden?
Technisch gesehen sind wir in einer Blase mit der McMurdo-Station, die nur
zehn Minuten entfernt ist. Wir sind elf Leute hier auf der Scott Base und
167 dort. Unsere nächsten Nachbarn sind die Italiener, rund 600 Kilometer
weg, und es gibt keine Flugverbindung.
Also kommen keine Besucher von außerhalb?
Im Spätsommer kamen noch Kreuzfahrtschiffe, die die historische
Discovery-Hütte besichtigen wollten, aber wir haben sie nicht zu uns
gelassen. Unser Job besteht vor allem aus Risiko-Abwägung, das machen wir
täglich. Für uns sind viele Dinge selbstverständlich, an die sich andere
Menschen in den letzten Wochen erst gewöhnen mussten.
Zum Beispiel?
Handdesinfektionsmittel im Speisesaal, regelmäßiges Händewaschen – alle
sind da sehr diszipliniert. Mit so vielen Menschen auf engem Raum kann man
sich keine Krankheiten leisten, egal welches Virus. Manche müssen auf eine
eng getimte Expedition ins Eis und können dabei keine Darminfektion
riskieren.
In der Antarktis ist Quarantäne also nichts Besonderes.
Nein. Wir müssen oft und schnell Teile des Gebäudes von den anderen
isolieren. Das ist normale Vorbeugung.
Dann hat die Coronakrise die gesamte Welt verändert, nur bei Ihnen nicht?
Hier herrscht „business as usual“. Plötzlich genießen wir Freiheiten, die
alle anderen verloren haben. Der einzige Unterschied für uns ist, dass alle
Flüge bis August gestoppt sind. Die Amerikaner haben einige Leute
hierbehalten, da sie nicht wissen, ob im Sommer wieder welche nachrücken
können.
Wer gehört zu Ihrer Crew?
Wir sind drei Frauen und acht Männer – Mechaniker, Schreiner, Elektriker,
Wissenschaftler. Drei von ihnen haben schon mal überwintert. Eine
Forscherin müssen wir hoch auf einen Berg bringen, wo sie einen Versuch
macht, und es muss eine Probe aus dem See-Eis genommen werden. Aber
meistens geht es nur um Instandhaltung.
Was genau ist Ihre Arbeit?
Ich kümmere mich als Wasser-Ingenieur darum, durch Umkehrosmose Trinkwasser
aus dem Salzwasser unterm Eis zu gewinnen und das Abwasser zu behandeln,
bevor es zurück ins Meer läuft.
Was für eine Art von Mensch muss man sein, um so einen Winter am Südpol zu
überstehen?
Wir sind wahrscheinlich alle ein wenig komisch. Überwinterer haben
bestimmte Sachen besser im Griff, aber man kann nicht sagen, ob sie eher
extrovertiert oder introvertiert sind. Was wir gemeinsam haben, ist die
Lust auf Abenteuer und eine generelle Offenheit, sich aus der Komfortzone
herauszubewegen. Angeblich verändert einen so ein Winter.
Es ist ja auch dunkel.
Letzte Woche hatten wir noch ein klein wenig Licht, jetzt ist es weg. Ich
war heute um viertel vor fünf draußen und konnte gerade noch den Horizont
sehen. Die Sterne standen am Himmel. Ab nächster Woche wird es rund um die
Uhr dunkel sein. Erst Ende August sehen wir die Sonne wieder.
Vier Monate ohne Tageslicht klingt härter als fünf Wochen zu Hause im
Lockdown.
Nun, wir hatten sechs Monate, um uns den Sommer über darauf einzustellen.
Wir haben Telefon und Internet, mir geht es prima. Und wir haben das
gewählt und wussten, was auf uns zukommt. Die Coronasituation brach über
die Menschen herein.
Wie haben Sie sich auf den Winter in der vermeintlichen Isolation
vorbereitet?
Ich war schon zwölf Monate vorher auf Stand-by und hatte viel Zeit, mich
damit zu beschäftigen, welche Auswirkungen Dunkelheit und Abgeschiedenheit
auf die Psyche haben. Es hilft, wenn man vorher weiß, dass eine Veränderung
stattfindet. Außerdem habe ich 25 Jahre auf Schiffen an einsamen Orten rund
um die Welt verbracht und bin an Einsamkeit gewöhnt. Ich denke immer daran,
was alles schiefgehen könnte. Diese Haltung hilft hier vor Ort.
Wurden Sie gut auf die mentalen Herausforderungen vorbereitet?
Das Training ist fantastisch. Wir kümmern uns umeinander und geben uns
gleichzeitig Raum. Da es nicht normal ist, so lange auf engem Raum zusammen
zu sein, müssen wir bestimmte Dinge lernen – zum Beispiel die Stimmungen
der anderen einschätzen zu können. Manche müssen sich ab und zu
zurückziehen und eigene Sachen machen. Aber wenn sie sich zu sehr
abkapseln, ist es gut, sie in eine Gruppenaktivität einzubinden.
Was zum Beispiel?
Wir haben Puzzle und Kartenspiele, in den Kaffeepausen gibt es
Kreuzworträtsel. Es ist gut, neben den ganz normalen täglichen
Interaktionen noch etwas anderes zu haben. Wir sind alle über unsere
Familien zu Hause im Bilde und gucken abends immer zusammen die
Nachrichten.
Viele Menschen tun sich mit wochenlanger Selbstisolation schwer. Haben Sie
Tipps?
Am besten hat man einen Tagesablauf mit kleinen Zielen oder
Herausforderungen und einer festen Routine. Freizeit, Pausen, Mahlzeiten –
der Körper und das Gehirn sind an diese Sachen gewöhnt. Das gibt in der
Unsicherheit mehr Stabilität. Sich bei Menschen melden, mit denen man lange
nicht gesprochen hat, hilft auch – nicht zum Einsiedler werden.
Und was machen Sie in Ihrer Freizeit?
Draußen passiert jetzt nicht mehr viel, daher verziehen wir uns ins Gym. Es
gibt viele Clubs für diverse Interessen, man kann Tanzunterricht nehmen und
Yoga machen. Heute spielen wir Fußball und nach dem Abendessen gucke ich
„Star Wars“.
Kann es auch mal klaustrophobisch werden, oder droht der Hüttenkoller?
Im Sommer ist es richtig voll hier. Wir hatten 85 Wissenschaftler und
anderes Personal hier auf der Scott Base, 350 kamen kurzfristig durch, und
dann noch 1.200 Leute auf der McMurdo-Station. Ich genieße es jetzt, dass
es ruhiger ist, mit weniger Ablenkung. Ich lerne meine Leute durch längere
Gespräche besser kennen und erfahre nach acht Monaten noch immer Neues.
Manche halten spannende Vorträge über ihre Klettertouren und Expeditionen.
Gibt es für Sie etwas Positives in dieser Pandemie?
Ich freue mich, dass ich meine Freunde auf der ganzen Welt besser erreichen
kann. Da die meisten zu Hause im Lockdown sind, haben sie mehr Zeit, um mit
mir zu telefonieren.
11 May 2020
## AUTOREN
Anke Richter
## TAGS
Antarktis
Quarantäne
Neuseeland
IG
Schwerpunkt Coronavirus
Philosophie
Schwerpunkt Klimawandel
Eisschmelze
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