# taz.de -- Imaginäre Lockerungsübungen: Reisen im eigenen Zimmer | |
> Der savoyische Offizier de Maistre hat 1794 ein imaginäres | |
> Quarantäneexperiment durchgeführt. Die Coronapandemie verdeutlicht uns | |
> Abhängigkeiten. | |
Bild: Reisen, die Welt entdecken. Das geht aktuell mittels der eigenen Vorstell… | |
Fernreisen finden momentan nur innerhalb der eigenen vier Wände statt und | |
unter Vorbehalt einer gehörigen Prise Einbildungskraft. Einer hat es vor | |
zwei Jahrhunderten vorgemacht: Xavier de Maistre mit seiner | |
„Abenteuerlichen Reise in meinem Zimmer“. Während Europa vom Fieber | |
exotischer Weltreisen erfasst und nichts in der literarischen | |
Öffentlichkeit erfolgreicher ist als Reiseberichte, von Chateaubriand und | |
Lamartine bis [1][Alexander von Humboldt,] muss ein anderer Schriftsteller | |
bis auf Weiteres auf Ausgang verzichten. | |
Der savoyische Offizier de Maistre, den es später nach Russland lockt, wo | |
er mit der Zarenarmee im Kaukasus kämpft und am Feldzug gegen Napoleon | |
teilnimmt, befindet sich 1790 noch in Turin und ist gerade wegen eines | |
Duells mit einem Rivalen zu einem sechswöchigen Hausarrest verurteilt. In | |
seiner beengten Wohnung über den Dächern der piemontesischen Hauptstadt | |
sucht er nach Finten, um die Zeit totzuschlagen. Da fällt ihm ein, er könne | |
sich einer Art imaginären Lockerungsübung hingeben, einem Spaziergang im | |
Geiste. | |
Den Offizier, zeitlebens im Windschatten seines ungleich berühmteren | |
Bruders, des Staatsphilosophen Joseph de Maistre, verbindet mit diesem eine | |
antimoderne royalistische Gesinnung: Aufklärerisches Gedankengut war keinem | |
der beiden geheuer. Anders als der unermüdliche Publizist Joseph schrieb | |
der Offizier Xavier nur wenig, doch sein Selbstexperiment „Reise in meinem | |
Zimmer“ geriet im 19. Jahrhundert zu einem kleinen literarischen | |
Bestseller. | |
42 Kapitel umfasst das Buch, ein Kapitel pro Tag seiner Zwangsisolierung. | |
Jedes Möbelstück der Quarantäne wird abgeschritten, vom Bett zum Lehnstuhl | |
und wieder zurück zum Schreibtisch. Diverse Gemälde und Kunstdrucke, die | |
die Wohnungswände tapezieren, rechtfertigen fantasievolle Abschweifungen, | |
während Schreibzubehör oder Waschutensilien zu eloquenten Dialogpartnern | |
werden. Den Vergleich mit Georges Perecs Beschreibungsübungen im 20. | |
Jahrhundert braucht diese Zimmerreise nicht zu scheuen: Dessen | |
„erschöpfende Gesamtbeschreibung eines Ortes“ (tentatives d’épuisement … | |
lieu) steht Xavier de Maistres Versuch tatsächlich in kaum etwas nach. Im | |
Übrigen sorgen nicht nur leblose Gegenstände für Ablenkung in diesem Alltag | |
mit Ausgangsbeschränkung; am Rande erfährt man, dass der festgesetzte | |
Duellant die Wohnung mit einem Hausdiener teilt. Selbst ein Haustier ist | |
da, eine Hündin namens Rosine. | |
Man könnte diese kleine Schrift aus dem ausklingenden 18. Jahrhundert als | |
amüsante literarische Spielerei abtun, was sie zweifellos auch ist. Doch | |
die gegenwärtige Krise aufgrund des Coronavirus und die verhängten | |
Ausgangssperren lassen de Maistres Zimmerreise in ein unvermutetes neues | |
Licht rücken. Auffallend ist etwa, dass der Erzähler im Laufe der | |
Quarantäne alle Gemütszustände durchmacht: Die Fassade des vorsätzlichen | |
Optimismus bröckelt immer wieder und lässt Ermattung und Fassungslosigkeit | |
aufblitzen. | |
Ferner will die Einrichtung in den vier Wänden nicht recht gelingen; immer | |
wieder gleitet der Geist ab in die Ferne, und nichts wird inständiger | |
erlebt als dasjenige, was gerade fehlt. Dem Turiner Hausarrest, zu dem der | |
Haudegen de Maistre verurteilt worden war, mangelt es an der | |
gesamtgesellschaftlichen Brisanz, die einer weltweiten Pandemie eignet; in | |
seiner kleinen Phänomenologie des Kontaktverbots brechen sich aber | |
Erfahrungen Bahn, die heute seltsam vertraut scheinen. Das ganze Elend der | |
Menschheit – so steht es schon bei [2][Blaise Pascal] – rühre nur daher, | |
dass der Mensch nicht in der Lage sei, ruhig in einem Zimmer zu verharren. | |
## Privilegien in Ausnahmezeiten | |
Der Royalist de Maistre gehört freilich, bei allen Einschränkungen, | |
weiterhin zu den Privilegierten, und wer sich in Westeuropa momentan gerade | |
mit derlei Lektüren tröstet, muss sich zweifellos auch dazuzählen. | |
Imaginäre Reisen im eigenen Zimmer kann nur unternehmen, wer überhaupt | |
eines hat (die Coronavirus-bedingte Arbeitslosigkeit zwingt in Madagaskar, | |
Kenia oder Kolumbien Zehntausende Menschen zur Stadtflucht, weil sie die | |
Mieten nicht mehr bezahlen können) oder aber die Muße dazu aufbringen kann | |
(wer momentan auf der Intensivstation arbeitet, dürfte andere Sorgen | |
haben). | |
Die gegenwärtige Lage hat ihrerseits derjenigen Xavier de Maistres | |
gegenüber einige Vorzüge: Was dem verurteilten Soldaten in der | |
Dachgeschosswohnung in Turin seinerzeit fehlte, waren | |
Kommunikationstechnologien wie Telefon und Internet, die heute vorführen, | |
warum gesellschaftlicher Zusammenhalt aufgrund von Distanz nicht gleich | |
zusammenbrechen muss (Der Ausdruck social distancing ist daher völlig | |
fehlgeleitet, richtiger wäre es wohl, von physical distancing zu sprechen). | |
Waren für den savoyischen Offizier die Wandbilder Anlass, aus seinem | |
Hausarrest imaginär auszubrechen, bricht heute die Welt über die | |
Bildschirme ins eigene Zuhause ein, sodass neuverhandelt werden muss, was | |
nah und fern jeweils bedeutet. Verbindungen lassen sich mittlerweile über | |
vielerlei Kanäle herstellen. | |
## Epidemische Ungleichheiten | |
Weitreichender dürfte die Frage sein, wem wir uns – in dieser Krise und | |
darüber hinaus – verbunden fühlen. Denn durch das Coronavirus sind alle | |
betroffen, und das ändert viel in den moralischen Ökonomien globalisierter | |
Verhältnisse. Alle sind betroffen, wenn auch nicht in gleicher Weise; | |
Ungleichheiten machen sich auch so bemerkbar: [3][als epidemische | |
Ungleichheiten]. Auffallend ist, dass die Krise vor allem in | |
Überflussgesellschaften eines enthüllt: deren extreme Abhängigkeit. | |
Obwohl kein Land davor gefeit ist, betraf das Virus zunächst die | |
Weltregionen, die als Motor der Globalisierung durch starken Waren- und | |
Personenverkehr geprägt sind. Denn für diesen Koloss auf tönernen Füßen | |
beginnt der Boden zu wanken; ein Krankheitserreger, nicht größer als ein | |
zehntel Mikrometer, stellt plötzlich viele liebgewonnene Gewissheiten in | |
Frage. Bei der Ursachenforschung sind einige mit Antworten schnell bei der | |
Hand: zügellose Personenfreizügigkeit, der wildgewordene globale | |
Kapitalismus oder aber die Hybris des Menschen, der auf den Nassmärkten | |
artenfremde Gattungen wie Schuppentiere, Fledermäuse oder Schlangen | |
zusammenpfercht. | |
Anderen wiederum, die den Zusammenbruch der thermoindustriellen | |
Zivilisation prophezeit hatten, gilt die Coronaseuche als Warnsignal des | |
Planeten, als letzter Schuss vor den Bug, damit sich die Menschheit endlich | |
der Tatsache bewusst wird, dass es eine Welt ohne sie geben könnte. | |
Was die Katastrophenfilme von Hollywood jahrelang vorgeführt haben, nämlich | |
die Aussicht eines postapokalyptischen, menschenleeren Planeten, ist nun | |
greifbarer denn je. Aus aller Welt treffen sie ein, die Bilder von | |
leergefegten Einkaufsmeilen und ausgestorbenen Innenstädten, in denen dann | |
die Natur langsam wieder Einzug hält. In Chile kommen die Bergpumas aus | |
den Kordilleren herunter, Finnwale kreuzen vor Marseille, in Venedig | |
schwimmen in dem aufklarenden Lagunenwasser wieder Fische, während in einem | |
chinesischen Zoos ein Pandabären-Paar endlich zum Geschlechtsverkehr | |
schreitet, den es sich – ob der vielen Gaffer – seit einem Jahrzehnt | |
versagte. | |
Wann kehrt der Normalzustand wieder ein? Vielleicht ist diese Frage falsch | |
gestellt. Wenig Gewissheiten hält die Coronakrise bereit, aber doch | |
immerhin solche, die negativer Art sind: Wir werden uns plötzlich all | |
dessen bewusst, was fehlt. Die Ausgangsbeschränkungen zeigen, wie schon | |
damals für Xavier de Maistre, was nun alles aus-, aber auch wie schwierig | |
uns die Beschränkung fällt. Gleichsam als Entzugserscheinung macht sich die | |
Abhängigkeit bemerkbar. | |
## Viren kennen keine Grenze | |
Wie absurd neosouveränistische Abschottungsversuche in Anbetracht einer | |
solchen globalen Bedrohung ausfallen, das sollte eigentlich ein Blick in | |
die Geschichtsbücher zeigen: Virenerreger machen genauso wenig am | |
Schlagbaum halt wie die radioaktive Tschernobyl-Wolke an westeuropäischen | |
Staatsgrenzen. Im Augenblick wird die internationale Abhängigkeit in der | |
Herstellung von Masken und sonstigen Mitteln der Krankheitsbekämpfung eher | |
als Schwachstelle unserer politischen Systeme begriffen, die sich nicht | |
zeitig für das Worst-Case-Szenario vorbereitet hatten. | |
Doch vielleicht birgt diese Einsicht in systemische Verletzlichkeit auch | |
Anlass, über Zusammenhalt und Solidarität anders nachzudenken. Räumliche | |
Abkapselung darf nicht mit politischer Abkapselung verwechselt werden. Was | |
für Staaten gilt, gilt für Individuen allemal: Ausgangssperren bedeuten | |
auch – wie schon für Xavier de Maistre – eine negative Erinnerung an all | |
das, was ein soziales Band ausmacht. | |
Abschließend noch einmal ein Abstecher in die Welt der Literatur. Der Autor | |
der „Abenteuerlichen Reise in meinem Zimmer“ hatte 1811 auch noch eine | |
andere kleine Novelle veröffentlicht: „Der Aussätzige von Aosta“ heißt s… | |
und geht auf de Maistres Aufenthalt zwanzig Jahre früher im | |
norditalienischen Aosta-Tal zurück. Was anfänglich nur ein kurzfristiges | |
Winterlager für sein royalistisches Regiment darstellen sollte, das sich in | |
Erwartung der anrückenden revolutionären Truppen taktisch in die Bergtäler | |
zurückziehen sollte, dauerte mehrere Jahreszeiten. Bei dieser erzwungenen | |
Entmobilisierung lernt de Maistre 1797 auch einen Leprakranken namens | |
Guasco kennen, der mitten in der Provinzhauptstadt Aosta abgeschieden in | |
einem mittelalterlichen Turm lebt. | |
In der Novelle wagt sich der Soldat an den Turmeingang heran, und der | |
voyeuristische Impuls ist nicht ganz zu übersehen. Der mit Lepra geborene | |
und grausam entstellte Guasco berichtet von seinen Beschäftigungsstrategien | |
und wie er bemüht ist, selbst in dieser Verbannung noch einem | |
gesellschaftlichen Leben nachzugehen. Besonders überrascht zeigt sich de | |
Maistre über den gepflegten Gemüsegarten. Guasco betont gleich, dass es | |
sich hier nicht um seinen Eigenbedarf handelt: Er habe sich aus ganz | |
Italien die besten Pflanzensamen liefern lassen und veredle in seinen | |
Beeten Blumen, die er bewusst nicht anrühre, damit die Kinder der Stadt sie | |
später pflücken können. Der gläubige de Maistre will darin vor allem ein | |
Zeichen christlicher Nächstenliebe sehen. Man darf die Novelle vielleicht | |
aber auch schlicht anthropologisch lesen: Der Mensch bleibt, auch wenn ihm | |
Gesellschaft verwehrt ist, ein Gesellschaftstier. | |
17 May 2020 | |
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Emmanuel Alloa | |
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