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# taz.de -- Veränderungen durch Corona: Unmöglich ist nichts mehr
> Maskenpflicht, Isolation, Home Office: Die Pandemie hat unser Leben im
> Griff. Ist das die Chance auf einen sozialen Wandel? Eine Betrachtung.
Bild: Nichts ist unmöglich
Der Kolumnist Harald Martenstein schrieb in einer seiner letzten Kolumnen
einen sehr guten Satz: „Einer der großen Verlierer der Krise ist das Wort
unmöglich.“
Unmöglich ist nichts mehr in diesen Tagen.
Seit Corona leben wir in anderen Zeiten. Neue Wörter haben sich in unseren
Alltag geschmuggelt, unsere Sprache wandelt sich. Selbstisolation,
Maskenpflicht, Abstandregelung. Wir haben andere Routinen und bewegen uns
so vorsichtig durch die Straßen, wie angeschlagenes Porzellan. Wir
[1][vermeiden körperlichen Kontakt zu Freunden und Verwandten] und ziehen
unsichtbare Kreise um Fremde. Wir fassen keine Treppengeländer mehr an,
Klinken oder Aufzugknöpfe.
Nicht nur unser Alltag ändert sich, die ganze Welt ist im Standby-Modus und
auf einmal scheint, wie Martenstein sagt, alles möglich. Arbeit im Home
Office, Digitalisierung von Schulen, die Lahmlegung der globalen
Wirtschaft, das Schließen von Grenzen,Ausgangsbeschränkungen, Kurzarbeit,
Milliardenhilfen vom Staat, die Einschränkung des Versammlungsrechts.
Der Sozialpsychologe und Publizist Harald Welzer, der sich in seiner Arbeit
auch mit politischen Utopien beschäftigt, sagt im Interview mit der taz:
„Wir sind in einer Situation, in der alle Routinen außer Kraft gesetzt
sind.“ Was für die einen nach Chaos klingt, nach der größtmöglichen
Unsicherheit, ist für andere ein Versprechen auf Wandel. [2][Wohin wird uns
diese Krise führen] und wer wird von ihr profitieren? Wie sieht sie aus,
die neue Normalität, die Zeit nach Corona?
Die neue Normalität
Das Schwierige an einer Krise ist, ihr Ausmaß zu bestimmen, wenn man drin
steckt und weder Politik noch Wissenschaft genaue Vorhersagen machen
können. Belastbare Zahlen zu den langfristigen gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Krise wird es
frühstens in ein paar Wochen oder Monaten geben. Dann wird sich zeigen, wie
viele Betriebe tatsächlich Insolvenz anmelden mussten, welchen Einfluss die
Schließung von Schulen auf Familien hatte, wie sich die Krise auf die
Geschlechtergleichstellung auswirkte, auf das Verhältnis von Jung und Alt,
auf unsere Mobilität und unser Verhältnis zum Staat.
Wie diese neue Normalität aussieht, auf die wir uns zubewegen, liegt vor
allem an den Entscheidungen, die vor uns liegen, und um diese ist ein
Streit entbrannt. Neue und alte Gräben tun sich auf und diejenigen, die den
Grabenkampf gewinnen, werden unsere Zukunft prägen.
Auf der einen Seite stehen diejenigen, die schnellstmöglich zurück wollen,
in den Normalzustand – in den Vor-Corona-Zustand. Das sind die Bewahrer der
Ordnung, Wirtschaftsverbände und große Teile der Politik. Sie fordern
Konjunkturprogramme für die Wirtschaft und die rasche Aufhebung der
Beschränkungen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die nicht viel
haben, was es zu bewahren gilt. Auch nicht im Normalzustand.
Systemrelevante Berufsgruppen, Frauenverbände, arme Menschen. Für sie ist
die Krise eine Chance auf Erneuerung, ein Zeitfenster, in dem sich
politische Forderungen umsetzen lassen, die bisher scheiterten, auch aus
mangelnder Aufmerksamkeit. Nicht nur zwischen Parteien, Verbänden und
politischen Programmen wird um die Zukunft gerungen. Auch auf der Straße,
in Familien, Freundeskreisen und auf Social Media-Kanälen herrscht
Uneinigkeit. [3][Maskenpflicht oder keine]? Drosten oder Kekulé? Mehr Staat
oder weniger? Wo geht es hin?
Chance auf Wandel ist greifbar
„Das könnte ein Momentum sein“, sagt Harald Welzer über den Ist-Zustand d…
Gesellschaft: Die Chance auf Wandel ist da, aber entscheidend seien die
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse.Sicherheit gegen Aufbruch. Haben neue
politische Konzepte und Stimmen gerade eine Chance? Oder leben wir in ein
paar Monaten wieder im bekannten Status Quo?
Anfang Mai forderte der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft in
einem offenen Brief an die Kanzlerin: „Beenden Sie die einseitige Fixierung
auf eine rein virologische Sichtweise und damit das gefährliche Spiel mit
den Zukunftschancen dieses Landes. Es geht um das Schicksal des deutschen
Mittelstands. Heben Sie den Lockdown auf, bevor es zu spät ist.“ Die
deutschen Autohersteller fordern Konjunkturhilfen in Form von Kaufprämien
und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) fordert einen ‚klaren
Exitplan‘.
Zustimmung kommt aus der Politik. Die FDP-Spitze kritisiert die
öffentlichen Einschränkungen als nicht verhältnismäßig. Auch der Tübinger
Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) plädiert für das
Ende der Beschränkungen. Wenn auch mit drastischeren Worten. Unter diese
Stimmen mischen sich auch diejenigen, die nicht nur um die deutsche
Wirtschaft bangen, sondern um den Liberalismus und die Freiheit als solche.
Der Kolumnist und Verleger der Wochenzeitung Der Freitag, Jakob Augstein,
schrieb in einem Artikel: „Die Angst vor der Krankheit hat die Demokratie
aufgegessen.“
In deutschen Großstädten versammeln sich Menschen zu Demonstrationen, auf
denen sich extreme Gesinnungen und Ideologien wild mischen und skandieren
gegen „Impfterror“, Maskenzwang und staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung d…
Corona-Krise. In geschlossenen Messenger-Gruppen verbreiten sich
Verschwörungstheorien, in denen vor der Errichtung einer Diktatur gewarnt
wird.
Demokratie unter Extrembedingungen
Spricht man mit Rechtsphilosophen Uwe Volkmann über diese Ängste und fragt
nach einer Einschätzung zum Zustand der Demokratie sagt er: „Der
demokratische Dialog ist intakt, wenn auch derzeit defizitär, weil er unter
extremen Bedingungen stattfindet.“ Trotzdem dominiert bei manchen das
Gefühl in einem „Kontrollstaat“ zu leben. Radikalere und gemäßigtere
Forderungen und Maßnahmen: Im Kern sollen sie die Rückkehr zur Normalität
ebnen und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sichern.
Nicht für alle ist das erstrebenswert. Hans-Jürgen Urban,
Sozialwissenschaftler und Vorstandsmitglied der IG Metall schreibt dazu in
einem Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau: „Die romantische Sehnsucht
nach den alten Zuständen ist fatal. Offenbar verklärt der Blick aus dem
Auge des Orkans die Vergangenheit. (…) [4][Soziale Ungleichheit,
Klimakrise, Rechtspopulismus und andere Missstände sollten auch im
Angesicht der Krise nicht so schnell in Vergessenheit geraten].“
Eine Umfrage des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) kam
im April zu dem Ergebnis, dass Frauen am härtesten von der Krise betroffen
sind. Der Anteil von Frauen in systemrelevanten Berufen liegt bei rund 60
Prozent. Systemrelevant heißt aber auch: Mehrheitlich schlecht bezahlt und
entlohnt mit wenig Ansehen. Dazu kommt: Frauen, das zeigt die WZB-Umfrage,
übernehmen momentan die Hauptlast der Familienarbeit, neben dem Job.
„Wir sind an einem Punkt, an dem es zwei Möglichkeiten gibt“, sagt Anja
Weusthoff, Vorstandsmitglied des Deutschen Frauenrats, „entweder wir nutzen
die Krise oder wir erleben einen Rückschritt.“ Sie fordert, Frauen zu
stärken, vor allem finanziell. Die geplanten Konjunkturprogramme müssten
auch zu besseren Bedingungen und höheren Gehältern in Branchen führen, die
von Frauen getragen werden. Pflege, Einzelhandel, Kinderbetreuung.
Krise als Chance?
Nicht nur in der Frage von geschlechtlicher Gleichstellung hat der
Stand-By-Modus strukturelle Ungerechtigkeiten ins Zentrum der
Aufmerksamkeit gerückt, die zuvor übersehen wurden. Auch, weil die
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse es nicht zuließen. Ronald Blaschke,
Mitbegründer des Netzwerks Grundeinkommen und Netzwerkrat sagt: „Die Krise
hat gezeigt, dass wir falsche Prioritäten setzen. Wir brauchen andere
soziale Sicherungssysteme.“ Blaschke hofft dabei auch auf die kommende
Wahl: „Wir haben jetzt ein offenes Fenster. Wenn die SPD merkt, dass sie
mit sozialen Themen punkten kann, dann könnte es sein, dass noch mehr
Bewegung in das Thema Grundeinkommen kommt.“
Erste sozialpolitische Krisen-Maßnahmen gibt es bereits: Die Linke sowie
die FDP fordern die Erhöhung der Hartz-IV Sätze. Bundesfamilienministerin
Franziska Giffey (SPD) kündigt mehr Hilfen für sozial benachteiligte
Familien an. Die Bundesregierung erließ Ende März das Sozialschutz-Paket,
dass den [5][Zugang zu sozialer Sicherung] erleichtern soll. Allerdings
zeitlich begrenzt. Was wird davon bleiben? Und: Reicht das für den Wandel?
Harald Welzer ist skeptisch bis pessimistisch: „Diejenigen, die am
wenigsten Verhandlungsmacht haben, werden den Kürzeren ziehen.“ Die
Alleinerziehenden, die kleine Bar um die Ecke, die Geflüchteten. Die
bestehenden Kräfteverhältnisse werden sich nicht ändern, sagt Welzer. Der
Rechtswissenschaftler Uwe Volkmann dagegen glaubt an den politischen
Wandel. Aber nicht im sozialen Sinne.
Er befürchtet ein erstarken der AfD und der Rechtspopulisten. „In
wirtschaftlichen Krisen suchen die Menschen nach autoritären
Führungsfiguren“, sagt Volkmann. „Wenn die Parteien der Mitte, die
Wirtschaft nicht wieder ankurbeln können, dann wenden sich die Menschen den
Populisten zu.“
Grundeinkommensaktivist Ronald Blaschke sagt: „Krisen sind immer eine
Chance.“ Momentan gäbe es so viel Unterstützung für das Grundeinkommen wie
nie zuvor. Auch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise trügen dazu bei. Die
Aussetzung der Vermögensprüfung bei Hartz-IV-Anträgen sei ein erster
Schritt. „Wieso diese Praxis nicht auch nach der Krise fortsetzen?“
Unmöglich ist nichts mehr in diesen Tagen.
12 May 2020
## LINKS
[1] /Distanz-in-der-Philosophie/!5678445
[2] /Corona-Talk-mit-Schirach-und-Kluge/!5681085
[3] /Koepfe-der-Corona-Relativierer/!5681132
[4] https://www.fr.de/politik/corona-pandemie-krise-chance-beschreitung-neuer-w…
[5] /Wirtschaftshistoriker-ueber-EU-Krise/!5677157
## AUTOREN
Gesa Steeger
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