Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Linkspartei in der Coronakrise: Kassandra im Bundestag
> Linken-Vorsitzende Katja Kipping will die Republik noch eine Weile
> stilllegen. Doch die Wirklichkeit hat sie schon überholt.
Bild: Doppelt vorsichtig: Katja Kipping im Bundestag
Berlin taz | Kaum jemand im Bundestag nimmt die Hygieneempfehlungen der
Regierung derzeit so ernst wie die Abgeordnete Katja Kipping. Als Einzige
in ihrer Fraktion Die Linke und als eine von ganz wenigen im Plenum
überhaupt verfolgte sie am vergangenen Donnerstag die Debatte über Hilfen
für Studierende mit professioneller Schutzmaske. Die Vorsitzende der
oppositionellen Linken ist disziplinierter als die Regierung selbst, denn
auch auf der Regierungsbank verhüllte – trotz klarer eigener Empfehlung –
niemand Mund und Nase.
Wenn Kipping und ihr Co-Vorsitzender Bernd Riexinger JournalistInnen
treffen, dann derzeit auch nur per Videokonferenz, also ganz ohne
Ansteckungsgefahr. So wie Ende April. Wenige Tage später veröffentlichte
Katja Kipping ihre Thesen aus dem Gespräch als Beitrag im Tagesspiegel und
auf ihrer Webseite. Sie [1][kritisierte darin scharf die
„Lockerungslobby“], die falsche Hoffnungen auf eine Rückkehr zur Normalit�…
wecke. Namentlich nannte sie FDP-Chef Christian Lindner und den
nordrhein-westfälischen CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet. Sie
kritisierte aber auch die zur Vorsicht neigende Bundeskanzlerin und deren
Zickzackkurs.
In Abgrenzung von beiden Kursen schlägt Kipping in ihrem Beitrag einen
dritten, radikalen Weg vor. Dem zufolge sollten Kitas, Schulen und
Geschäfte noch eine Weile stillgelegt und möglicherweise auch die nicht
systemrelevante Produktion für einige Wochen heruntergefahren werden.
Ziel dieses Kurses ist es, das [2][Coronavirus] ganz auszurotten, indem die
Reproduktionsrate auf unter 0,5 sinkt. Das hieße, dass zwei Infizierte nur
noch eine weitere Person anstecken. Gegenwärtig steckt eine Person jeweils
eine weitere an, Tendenz steigend. „Dieses Land muss sich eine
Stop-the-virus-Politik leisten“, fordert Kipping hingegen. Damit ließen
sich sowohl eine ökonomische Dauerkrise als auch eine ewig währende
Pandemie vermeiden, so die Linke.
## Der Plan klingt prima – aber nicht realistisch
Was Kipping nicht weiter ausführt, aber eine Konsequenz ihrer
vorgeschlagenen Radikalkur wäre: Wenn das Virus einmal gestoppt und ganz
Deutschland coronafreie Zone wäre, müssten eigentlich noch strengere
Grenzkontrollen mit strikten Quarantänevorschriften her, die sicherstellen,
dass das Virus nicht von außen wieder eingeschleppt wird. „Offene Grenzen
für alle“, eine Forderung, die die Parteivorsitzenden nach zähem
innerparteilichen Ringen im Bundestagswahlprogramm 2017 durchsetzten, wären
erst mal passé, solange Corona weltweit grassiert. Oder?
Im Gegenteil, meint Kipping auf Nachfrage. Der Kurs, das Virus zu stoppen,
sei der verlässliche Kurs für dauerhafte Rückkehr zur Bewegungsfreiheit.
„Im Gegensatz zu dem, was jetzt kommt – ein Hin und Her zwischen
Lockerungen und erneutem Shutdown inklusive der Grenzschließung.“
Kippings Hoffnung: Wenn sich der deutsche Weg als erfolgreich erweist,
werden andere Länder diesem Beispiel folgen – und Corona wird bald
europaweit ausgerottet sein.
Klingt prima. Aber nicht realistisch. Nationale Alleingänge Deutschlands
haben sich schon 2015 als wenig inspirierend für andere EU-Länder erwiesen.
Ironie der Geschichte: Während im Zuge der Flucht Hunderttausender Menschen
nach Europa die AfD Grenzschließungen forderte und die Linke vor nationalen
Lösungen globaler Probleme warnte, ist es heute andersherum: Heute fordert
die AfD Grenzöffnungen. Die Linken-Chefin plädiert dafür, Corona zunächst
konsequent im Innern zu bekämpfen. Schon kurios.
## Vorsicht ist Konsens
Dennoch stößt Kipping mit ihrer Position in ihrer Partei auf viel
Zustimmung. „Es ist Konsens, dass wir dazu tendieren, eher vorsichtig zu
sein“, sagt Kippings Co-Vorsitzender Bernd Riexinger. „Ich würde zwar nicht
so weit gehen, alle nicht systemrelevanten Betriebe zu schließen“, so der
langjährige Gewerkschaftssekretär. Aber auch er plädiere für eine sachte
Öffnung, die man notfalls wieder korrigieren könne. Der Gesundheitsschutz
der Beschäftigen müsse dabei an erster Stelle stehen.
Freilich gibt es auch Linke, wie etwa den Vize-Fraktionsvoritzenden Andrej
Hunko, der Zweifel an den Einschränkungen hat und in Anfragen an die
Bundesregierung auch die wissenschaftliche Evidenz von Reisebeschränkungen
hinterfragt. Doch auch die beiden Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und
Amira Mohamed Ali, auf deren Vorschlag Hunko im Februar ins Amt kam, raten
zur Vorsicht.
Beide trafen Anfang Mai ebenfalls JournalistInnen zum Gespräch – physisch,
maskenlos, aber mit gebotenem Sicherheitsabstand. Argumentativ pflichtete
Bartsch Kipping bei. Er warnt im Zuge der Lockerung vor einem Dominoeffekt,
der nicht mehr aufzuhalten sei. Bei den Lockerungen habe die
Bundesregierung das „Heft des Handelns“ nicht mehr in der Hand. Die
Ankündigungen der Länder „überschlagen sich“.
Allerdings: In drei dieser Länder ist die Linke an der Regierung beteiligt,
in Bremen, in Berlin und in Thüringen, wo sie sogar den Ministerpräsidenten
stellt. Und die rot-rot-grüne Regierung unter [3][Bodo Ramelow] erlaubte
als erste in Deutschland Ende April wieder Gottesdienste, früher noch als
Nordrhein-Westfalen.
## Was steckt hinter dem Kipping-Kurs?
Die Vorsitzende der Linken in Thüringen, Susanne Hennig-Wellsow, teilt im
Grunde Kippings radikalen Stop-the-virus-Kurs. Sie fand den Beitrag
„wirklich gut“. Aber: „Das eine ist die politische Haltung. Das andere ist
der Druck aus der Gesellschaft. Wut und Zorn auf die Einschränkungen nehmen
zu.“ Auch in Thüringen trafen sich am Wochenende wieder Menschen zu
Hygiene- und Anti-Corona-Demos, um gegen Einschränkungen zu protestierten.
Und so wird die Linke in Regierungsverantwortung ebenfalls zur Getriebenen:
„Die berechtigte Gegenposition Katja Kippings ist nur noch schwer
umsetzbar“, meint Hennig-Wellsow. Ab Freitag sollen in Thüringen auch die
Gaststätten wieder öffnen.
Ist also Kipping eine tragische Mahnerin, deren Vorhersagen niemand Glauben
schenkt, nicht einmal die eigenen GenossInnen? Oder steckt mehr dahinter?
Etwa der Versuch, die in Umfragen stagnierende Oppositionspartei und sich
selbst als verantwortungsvollen Gegenpart zu profilieren?
Katja Kipping und Bernd Riexinger wollten sich im März zu ihrer weiteren
Zukunft äußern. Die beiden Parteivorsitzenden sollten ihre Ämter laut
Satzung eigentlich nach acht Jahren Amtszeit abgeben. Doch diese
Entscheidung ist vertagt, genau wie der Parteitag. Inzwischen ist nicht
mehr ausgeschlossen, dass Kipping im Spätherbst wieder für den
Parteivorsitz antreten könnte.
Aber auch andere Nachfolgerinnen sind im Gespräch, darunter Susanne
Hennig-Wellsow, die nunmehr krisenerprobte Thüringer Landeschefin. Dass
Kipping jetzt allerdings alles auf die Karte setzt, erneut
Parteivorsitzende zu werden, ist unwahrscheinlich. Sie habe immer einen
Plan B in der Tasche, sagt eine enge Vertrauensperson. Oder auch einen Plan
C – einen dritten Weg eben.
13 May 2020
## LINKS
[1] https://www.katja-kipping.de/de/article/1709.der-einzige-ehrliche-ausweg-au…
[2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[3] /Bodo-Ramelow-ueber-Corona-Skeptiker/!5681547
## AUTOREN
Anna Lehmann
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Die Linke
Katja Kipping
Schwerpunkt Coronavirus
Die Linke
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Utopie nach Corona
IG
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Thüringen plant „Lockdown“-Ende: Ramelow spielt Vabanque
Thüringens Ministerpräsident will alle Corona-Einschränkungen in seinem
Land beenden. Dazu gehören auch die Abstandsregeln und der
Mund-Nasen-Schutz.
Linkspartei und der Fall Hunko: Am Rande der Vernunft
Linken-Fraktionsvize Andrej Hunko beschuldigt Medien, „abweichende
Meinungen“ zu zensieren. Populismus liegt auch der Linkspartei nicht fern.
Vermeintliches Wissen in der Coronakrise: Im Land der Missverständnisse
Warum wir aneinander vorbeireden, wenn es um Gesundheitswissen geht. Und
was uns davon abhält, Fakten korrekt zu erinnern oder wiederzugeben.
Veränderungen durch Corona: Unmöglich ist nichts mehr
Maskenpflicht, Isolation, Home Office: Die Pandemie hat unser Leben im
Griff. Ist das die Chance auf einen sozialen Wandel? Eine Betrachtung.
Gregor Gysi meldet sich zurück: „Ich hatte im Bundestag Leerlauf“
Der neue außenpolitische Sprecher der Linksfraktion über sein Verhältnis zu
Venezuela, Auslandeinsätzen, Regierungsbeteiligung und Staubsaugen.
Bodo Ramelow über Corona-Skeptiker: „Das ist Provokation“
Wenn sich Pegida, AfD und bürgerliche Sorgen vermischen, sei das toxisch,
sagt Thüringens Ministerpräsident. Ihn ängstigen die
Verschwörungsfantasien.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.