# taz.de -- Vermeintliches Wissen in der Coronakrise: Im Land der Missverständ… | |
> Warum wir aneinander vorbeireden, wenn es um Gesundheitswissen geht. Und | |
> was uns davon abhält, Fakten korrekt zu erinnern oder wiederzugeben. | |
Bild: Die unterschiedlichen Einschätzungen der WissenschaftlerInnen zu Corona … | |
Das persönliche Gespräch in der Familie, zwischen Bekannten oder in der | |
Nachbarschaft [1][kann derzeit unangenehm werden], wenn es um Corona geht. | |
Und das tut es ja ständig. Hie und da kommt es beim Plausch am Gartenzaun | |
zum Eklat, weil man sich nicht mehr auf die grundlegende Faktenlage einigen | |
kann. [2][Ist der Nachbar also ein Verschwörungstheoretiker?] | |
Vielleicht. Aber nicht unbedingt. Alltagsgespräche sind urplötzlich | |
hochkomplex und fachlich geworden. Wir, die Menschen ohne Habilitation in | |
Virologie, versuchen uns einen Reim drauf zu machen. Und scheitern. | |
Garantiert. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Opfer des | |
Dunning-Kruger-Effekts. Der besagt, dass man immer dann glaubt, alles | |
kapiert zu haben, wenn man keine Ahnung hat. | |
Heißt also: Dieser Tagen verstehen wir permanent irgendetwas falsch, | |
erinnern Fakten nicht korrekt oder reden aneinander vorbei. Und trotzdem | |
müssen wir klarkommen mit der Sachlage. Wahrscheinlich hilft es, sich dabei | |
einiger unserer menschlichen Angewohnheiten in Sachen Gesundheitswissen | |
bewusst zu werden. | |
## Das „Schad’ ja nix“-Wissen | |
Dolores Albarracin beforscht seit Jahren den öffentlichen Diskurs über | |
Gesundheitsthemen. Die Psychologieprofessorin an der University of Illinois | |
hat Debatten über HIV verfolgt, das Wissen der Bevölkerung über Zika | |
ausgewertet und zuletzt Umfragen über Sars-CoV-2 durchgeführt. Albarracin | |
befürchtet, dass viele gerade schlechter informiert sind als gewöhnlich, | |
obwohl die meisten sich viel mehr informieren. „Wir befinden uns in einer | |
globalen Krise“, sagt Albarracin, „was bedeutet, dass jede | |
Falschinformation wesentlich größere Auswirkungen haben kann als | |
normalerweise“. | |
Albarracin nennt ein simples Beispiel: unser Wissen über die Wirkung von | |
Vitamin C. Hilft zusätzlich eingenommenes Vitamin C bei gewöhnlichen | |
Erkältungen oder kann es sie sogar verhindern? Na klar, oder? Tatsächlich | |
ist eine solche Wirkung nicht nachgewiesen. Die letzte klinische Metastudie | |
dazu kam von der Gesundheitsorganisation Cochrane Collaboration im Jahr | |
2013 und ergab: Der Effekt von Vitamin-C-Ergänzungsmitteln ist | |
insignifikant, also vernachlässigbar. Außer für Menschen, die unter | |
Extrembedingungen leben und arbeiten, sei es überflüssig, Vitamin C zu | |
nehmen. Das weiß nur so gut wie niemand. | |
Wieso? Dolores Albarracin glaubt, dass wir unser Wissen nicht auf den | |
neusten Stand bringen, wenn es nicht dringend notwendig ist. „Wenn Menschen | |
bei einer gewöhnlichen Erkältung Vitamin C nehmen, ist das harmlos. Es | |
schadet ja nicht.“ Deshalb hätten sich auch die Behörden nie besonders um | |
Aufklärung über dieses Thema gekümmert. Jetzt, wo es das Coronavirus gibt, | |
ist dieses falsche Wissen aber plötzlich gefährlich. „Wenn Menschen jetzt | |
ihre Vitamin-C-Pillen schlucken und dann arglos nach draußen gehen, ist das | |
ein Problem.“ | |
Wir neigen also dazu, unser Wissen nur bei dringendem Bedarf kritisch zu | |
prüfen. Das heißt nicht, dass wir alles glauben, was uns nützt, aber | |
zumindest geben wir nicht besonders acht, solange wir als Folge der | |
Ignoranz keinen unmittelbaren Schaden befürchten. Und so hoffen viele von | |
uns weiter, dass Vitamin C sie unbeschadet durch die Krise bringen wird, | |
obwohl es wahrscheinlich noch nicht mal den letzten Schnupfen kuriert hat. | |
## Fliegende Schnecken | |
Aber was heißt schon „Wirkung nicht nachgewiesen“? Nur weil es der | |
Wissenschaft bisher nicht gelungen ist, sie nachzuweisen, heißt das ja | |
nicht, dass es sie nicht gibt, oder? | |
Eigentlich korrekt. Aber da sind wir gleich beim nächsten Problem: dass wir | |
die Sprache der Forschung missverstehen. Naturwissenschaften sind | |
evidenzbasiert, das heißt, sie können nur beweisen, was da ist, und niemals | |
das, was nicht da ist. Es gibt zwar keine fliegenden Schnecken, aber die | |
evidenzbasierte Wissenschaft kann streng genommen nicht beweisen, dass es | |
keine fliegenden Schnecken gibt. Sie kann nur mit großer Sicherheit sagen, | |
dass die bisherigen Untersuchungen keine fliegende Schneckenart nachweisen | |
konnten. | |
Dass Wissenschaft so vorsichtig formuliert, ist oft Argument genug für | |
diejenigen, die Studienergebnisse zugunsten überzeugungsbasierten Wissens | |
beiseiteschieben: Vitamin C hilft bestimmt, nehmen wir in der Familie seit | |
Generationen und waren nie schlimm krank. Hier kommt ein weiteres Problem | |
unseres Denkens hinzu: der „Confirmation Bias“: Wir neigen dazu, selektiv | |
Belege und Bestätigungen für unsere Überzeugungen zu suchen. Die | |
evidenzbasierte Wissenschaft arbeitet – idealerweise – genau andersherum. | |
Sie falsifiziert, bis ein Fakt übrig bleibt. | |
## Eindeutigkeitssucht | |
Verständlich, dass man sich gerade in Gesundheitsfragen sicher sein will. | |
Und so könnte man derzeit täglich aus der Haut fahren, wenn man den | |
Fernseher oder das Handy auf der Suche nach eindeutigen Ansagen einschaltet | |
und sich dann dieses vorsichtige Geschwurbel der Drostens dieser Welt | |
anhören muss. Obendrein widersprechen sich diese Herren und Damen dann auch | |
noch permanent. Heinsberg-Studie ja, Heinsberg-Studie nein. Was denn nun? | |
Kein Wunder also, wenn unsere Bekannten am Gartenzaun behaupten, die seien | |
alle inkompetent. Womit wir beim nächsten Problem sind: Wir verstehen den | |
wissenschaftlichen Prozess nicht richtig. | |
Die Wissenschaft ist eine intersubjektive Diskursgemeinschaft. Heißt kurz | |
und knapp: Was eine*r sagt und sieht, gilt gar nichts, solange es nicht | |
auch andere unter denselben Bedingungen gesagt und gesehen haben. Heißt | |
also: Ein Forschungsergebnis ist keines, solange es nicht von einem | |
unbeteiligten Institut nachgeprüft ist. Die Heinsberg-Studie, die Erhebung | |
der Zahl von Coronavirus-Infektionen und deren Verläufen im Kreis Heinsberg | |
in Nordrhein-Westfalen sorgte Mitte April genau damit für Verwirrung. Die | |
Bonner Uniklinik hatte die Studie veröffentlicht, ehe sie dieses | |
Prüfverfahren, genannt Peer Review, durchlaufen hatte – was andere prompt | |
bemängelten. | |
Uns, der Öffentlichkeit, stellt sich das wie folgt dar: Anerkannte | |
Forscher*innen liefern endlich Ergebnisse, und kleinliche Gartenzwerge | |
kritteln dran rum. Und für so was haben wir doch keine Zeit, oder? Wir | |
brauchen Zahlen! Nun ja, aber wenn sie nicht intersubjektiv geprüft sind, | |
sind es eben keine. Kleinlich? Nein, ziemlich sinnvoll, weil das System | |
anerkennt, dass selbst die klügsten Akademiker*innen angesichts der | |
schieren Fülle möglicher empirischer Daten den Überblick verlieren. Dass | |
sie kaum alle möglichen Störfaktoren mitdenken können. Außerdem sind | |
Menschen fehlbar und lassen sich von Interessen leiten – nicht mal | |
unbedingt von Geld und Ruhm, sondern einfach von dem Ehrgeiz, etwas Tolles | |
herauszufinden. Was wir für unangemessenes Gerangel halten, ist der | |
stinknormale wissenschaftliche Prozess. Nur wird der sonst nicht vor aller | |
Augen ausgetragen. | |
## Die „Er sagt, sie sagt“-Falle | |
Nur weil es diesen Prozess gibt, wissen wir, dass Spinat gar keinen | |
außergewöhnlich hohen Eisengehalt hat und dass Impfungen nicht mit Autismus | |
korrelieren. Hatten beides mal studierte Leute in Studien „herausgefunden“. | |
Die Überprüfungen ergaben aber: Blödsinn. In der Studie über Spinat fand | |
man einen Messfehler und die Ergebnisse der Studie über Impffolgen konnten | |
nicht reproduziert werden. Damit gilt das als nicht nachgewiesen. Reicht | |
Ihnen nicht? Fliegende Schnecken. | |
Dass dieses Gerangel um Ergebnisse ein produktives ist, gerät in den | |
Hintergrund, weil wir – nächstes Problem – Wissen gern binär betrachten: … | |
sagt, sie sagt. Wenn der eine falsch liegt, muss die andere recht haben und | |
umgekehrt. Das Journalist*innen obendrein gern alles auf einen Konflikt | |
zwischen genau zwei Parteien hin zuspitzen, hilft auch nicht. | |
Denn es gibt weitere Möglichkeiten: Beide haben unrecht. Oder: Beide haben | |
recht, aber jeweils auf ihre Weise. Oder: Beide haben völlig | |
unterschiedliche Fragen gestellt. Siehe die Debatte über die Masken. Da | |
wurde über die Frage „Wirken Masken?“ diskutiert, aber es wurde stets das | |
„Wofür“ unterschlagen. Als was wirken sie? Als Ersatz für Abstandsregeln, | |
Kontakteinschränkungen und Händewaschen? Nein. Als zusätzliche Sicherheit, | |
sofern man das Ding richtig trägt und es wäscht? Gewiss. | |
Fatal wird es, sagt Dolores Albarracin, wenn der produktive | |
wissenschaftliche Prozess zum politischen Konflikt wird. „Die größte Gefahr | |
für eine konstruktive Debatte über Gesundheitsfragen ist, wenn Fakten und | |
Wertvorstellungen verschmelzen.“ Albarracin hat in Umfragen in den USA | |
Folgendes erhoben: Ob Menschen eher andere „Fakten“ für wahr halten oder | |
nicht, hängt stark davon ab, welche Medien sie konsumieren, sprich: welchem | |
politischen Lager sie anhängen. | |
Wir sind also Wesen mit verzerrtem Zugang zum Wissen: Wir denken allzu gern | |
binär, wir beharren auf anekdotischer Evidenz, und wir fühlen uns | |
obendrein auf solchen Gebieten besonders gut bewandert, wo wir keine Ahnung | |
haben. In einer idealen wissenschaftlichen Welt würden wir also alle so | |
lange die Klappe halten, bis wir unsere Aussagen gefactcheckt und | |
gepeer-reviewt haben. Aber so sind wir nicht. | |
Was also tun? Nach-denken. Nachsicht haben. Nicht jede*r, der am | |
Altglascontainer Fake News herumtrötet, marschiert gleich auf die nächste | |
Verschwörerdemo. Selber fragen: Weiß ich das? Woher? Besser schau ich noch | |
mal nach. Und: Öfter mal was nicht wissen. In dieser gegenwärtigen | |
Situation sind wir damit in verdammt guter Gesellschaft. | |
15 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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