# taz.de -- Individualismus in der Coronakrise: Ich tu, was ich will | |
> Der Geist der Solidarität scheint verflogen zu sein. Stattdessen macht | |
> sich nun ein Individualismus breit, der Menschenleben kosten könnte. | |
Bild: „Shoppen muss einfach sein“? – Individualismus vs. Solidarität in … | |
In den Geschichtsbüchern, die Kinder in einigen Jahrzehnten gähnend aus | |
ihren E-Ranzen ziehen, könnte stehen: „Mit der Pandemie der frühen 20er | |
begannen Gesellschaften ihre Politik, Wirtschaft und Wissenschaft | |
unmittelbarer aufs menschliche Leben auszurichten.“ Ein Satz, den die | |
Schulkinder oft mit ihren intelligenten Textmarkern unterstreichen werden. | |
Oder aber die Geschichte lautet anders, nämlich so: „Nachdem sich die | |
Gesellschaften einige Wochen zu Kontaktsperren verpflichtet hatten, | |
begannen sie zu klagen wegen fehlender Möglichkeiten, zu dritt bummeln zu | |
gehen. Seither gilt: Dass Alte und Vorerkrankte in der Ersten Welt | |
hunderttausendfach an behandelbaren Infektionen sterben, ist der Preis, | |
[1][den wir gerne zahlen für quirlige Fußgängerzonen].“ | |
Natürlich geht es nicht bloß ums Shopping. Der Lockdown hat Welleneffekte, | |
es sind Existenzen gefährdet, angesparte Ruhestände oder das Auskommen im | |
allernächsten Monat, das ist mir klar. | |
Es ist auch nicht der Frust, das Klagen und das Gesuche nach Auswegen per | |
se, das mich diese Woche so enttäuscht hat. Sondern, dass die solidarische | |
Stimmung offenbar verfliegt, das Impro-Unternehmertum, der radikale | |
Umdenkgeist der ersten Pandemiewochen. | |
## Die Verantwortung, Leben zu retten | |
Dass das Quäntchen moderner, menschlicher Sozialismus, das da bisweilen zu | |
spüren war, einem ultraindividualistischen Liberalismussound zu weichen | |
scheint, den [2][prominente Stimmen aller politischer Milieus anschlagen] | |
und der in mancher Unterhaltung am Küchen- oder Browserfenster widerhallt. | |
Einem aggressiven Liberalismus, der nicht fragt, was man selbst – in | |
privilegierter Position – tun kann, um Not zu lindern. Sondern der darauf | |
besteht, dass man tun dürfen muss, was immer man tun dürfen will. Der das | |
Verbot um seinetwillen bekämpft – mit einem inhaltsleeren Freiheitsbegriff: | |
Ich will tun, was immer man mir verwehrt. | |
Wahrhaftig nicht alles lief rosig bisher, aber da war kreatives | |
Anpackertum, da war radikaler solidarischer Geist, der als unveräußerlich | |
setzte, [3][dass wir selbstverständlich auch die Schwächsten zu retten] | |
versuchen. Da war eine Stimmung, aus der heraus ein sinnvoller Exit zu | |
planen gewesen wäre: der Exit aus einem System, das Leben von Jobs abhängig | |
macht. | |
Wenn die nun einer Stimmung weicht, in der die Möglichkeiten unserer | |
Medizin nicht zugleich auch unsere Verantwortung sind, Leben zu erhalten, | |
dann... Nun, dann werden die Schulkinder das in ihren Geschichtsbüchern so | |
nicht lesen. Denn die schreiben ja die Überlebenden. | |
1 May 2020 | |
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[1] /Corona-und-das-Ende-der-Solidaritaet/!5678124 | |
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## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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