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# taz.de -- Social Distancing: Was verlernen wir?: Solidarisches Abstandhalten
> Wir werden gerade auf ein Paradox eingeschworen: füreinander einzustehen,
> ohne sich dabei begegnen zu können.
Bild: Was passiert mit Menschen, die ihre Sozialkontakte wochenlang um 98 Proze…
„Bitte halten Sie Abstand. Damit wir uns bald wieder nah sein können.“ So
oder ähnlich lauten die derzeitigen Warnhinweise weltweit. Und wenn sie
nicht so drängend konkrete Gründe hätten, könnte man derlei Slogans für ein
grandioses Experiment in höherer Dialektik halten, so wie die Menschheit
gerade auf ein Paradox eingeschworen wird: füreinander einzustehen, ohne
sich dabei begegnen zu können.
Gut, Solidarität drückt sich nicht immer in körperlicher Nähe aus. Sozialer
Beistand kann auch bei räumlichem Abstand geleistet werden. Unser
Sozialstaat ist institutionalisierte Solidarität. Und der berühmte
Generationenvertrag, der ihm zugrunde liegt, ist ein Abstraktum und kein
massenhaft absolvierter Rütlischwur unter freiem Himmel.
Trotzdem wuchs Solidarität aus dem Zusammenschluss realer Körper, der
gerichteten Kraft assoziierter Individuen. Vom Sturm auf die Bastille bis
zum Arabischen Frühling. Auch wenn sie inzwischen Rituale sind.
Die Maidemonstrationen, die an die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts
erinnern, können die Video-Solidaritätsadressen nicht ersetzen, die heute
selbst bei revolutionären Protestversammlungen gang und gäbe sind. Keine
Kunst, keine Kultur, keine Solidarität ohne volle Säle, ohne Menschen, die
sich auf die Pelle rücken.
## Corona killed the neo-liberalism
Ob die Coronakrise den Neoliberalismus gekillt haben mag, wie jetzt überall
gejubelt wird, wird sich zeigen. Immerhin hat sie das Dogma des
deregulierten Staates ad absurdum geführt. Unübersehbar hat sie deutlich
gemacht, dass Solidarität heute etwas ist, worauf alle angewiesen sind. Sie
ist ein Paradebeispiel für dieses langsame Wiedererwachen eines Gefühls
wechselseitiger Abhängigkeit: von den Gabenstellen für Obdachlose bis zu
den Einkaufsdiensten für betagte NachbarInnen.
Ganz neu ist das nicht: Die Renaissance der neuen Solidarräume, die schon
in den letzten Jahren zu erleben war, reklamiert diese freilich nicht nur
als Idee. Die neuen Genossenschaften, Lerngruppen und urbanen Kooperativen
wollen diese Räume immer mit realen Menschen füllen, nicht nur eine coole
App draus machen.
Abstand halten rettet Leben, Abstand halten schafft Zusammenhalt. Die
Appelle von Krankenschwestern und ÄrztInnen [1][aus Italien] erinnern
schmerzlich daran. Und die Balkonkonzerte dort zeigen: Es lässt sich auch
über Distanz soziale Nähe herstellen. Das freilich wäre das richtige Wort.
Denn nur die physische Distanz schützt vor Ansteckung. Aber auf diese Nähe,
die erst Gemeinschaft schafft, wollen wir gerade jetzt nicht verzichten.
Sie erst gibt uns das Gefühl, dass wir nicht ganz allein sind.
Genies der Selbstisolation wie Nietzsche und Hölderlin, die in der Krise
plötzlich zu Prototypen der Quarantäne-Ära stilisiert werden, sind in
Wahrheit eine wenig nachahmenswerte Ausnahme. Die Sozialdistanz, die sie
praktizierten, war mehr traumatisch als prophetisch. Unter diesem Stichwort
wird jetzt eine zwiespältige habituelle Praxis eingeübt.
## „Zukurzgekommene aller Länder, vereinigt euch!“
Nicht nur weil mit dem Begriff auch das neoliberale Ideal der
Selbstsozialisation aufgerufen wird, für das, frei nach Margaret Thatcher,
„no such thing as society“ existiert. Sie prägt eben auch das Verhalten.
Mensch erschrickt bei mehr als zwei Personen auf der Straße und geht auf
Abstand, sobald sich jemand nähert. Vorsicht und Misstrauen vor dem
unmittelbaren Gegenüber, so notwendig sie jetzt sein mögen, werden zur
Gewohnheit.
Doch was passiert mit Menschen, die ihre Sozialkontakte wochenlang um 98
Prozent herunterfahren? Die Menschenketten gegen den neuen Faschismus nur
noch online bilden dürfen? Was mit Menschen, die auf ein Verhalten „ohne
jede Form von Gruppenbildung“ konditioniert werden? So lautet das amtliche
Berliner Distanzgebot. Was, wenn es nach der Krise heißt: „Zukurzgekommene
aller Länder, vereinigt euch!“ Sich dann aber niemand mehr richtig
solidarisieren kann? Weil kaum noch einer weiß, wie es geht?
„Distanz ist die erste Bürgerpflicht“, verklärte eine deutsche Tageszeitu…
eine epidemiologische Vorsichtsmaßnahme zum kategorischen Imperativ. Je
länger die „Sozialdistanz“ dauert, desto größer auch die Gefahr, dass die
Nah- und Kollektiverfahrung Solidarität auf der Strecke bleibt. In
Krisenzeiten lernt der Mensch. Er kann aber auch viel verlernen.
30 Mar 2020
## LINKS
[1] /Corona-in-Norditalien/!5669311
## AUTOREN
Ingo Arend
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