# taz.de -- Ein Quarantäne-Tagebuch: Leben auf Corona Island | |
> Isolation kommt von Isola, der Insel, und wurde einst von Venezianern | |
> erfunden. Die Franzosen machten aus 30 Tagen 40, die Quarantäne. | |
Bild: Die Pest in Venedig. Gemälde von Antonio Zanchi, 1666. | |
Kranzik trägt das Coronavirus in sich, befindet sich in häuslicher | |
Quarantäne und führt darüber Tagebuch. Das Tagebuch ist real, Kranzik ein | |
selbst gewähltes Pseudonym. Heute: Tag 1 bis 7. | |
## Tag 1 | |
Sieben Leben hat die schwarze Katze. Eins für Corona? | |
In mir das Virus, an dem andere sterben. Seltsames Gefühl. | |
Sollte ich Angst haben? Sollte ich keine Angst haben? Sollte ich nur noch | |
wichtige Dinge tun? | |
Überhaupt seltsam, diese Epidemie. Die ganze Gesellschaft in | |
Zwangsentschleunigung. Kein Guru, kein Umweltaktivist hätte das je für | |
möglich gehalten: Entschleunigung unter Androhung der Dezimation der Alten | |
als Geiseln der Gesellschaft. Wenn ihr nicht spurt, kommen eure Großeltern | |
in den Sarg. | |
Die Rentenversicherungen vorsichtig optimistisch... kann man deren Aktien | |
kaufen? | |
Es scheint, nur Katastrophen lassen uns ernsthaft nachdenken. Immer noch | |
dieses allgemeine Herumgekreische, sich gegenseitig vorwurfsvolle | |
Beschuldigende der Medienwelt. | |
Aber vielleicht hat diese Situation ja etwas Gutes. Durch Schaden wird man | |
klug. In allem Schlechten wächst der Keim von etwas Gutem. Vielleicht hilft | |
es gegen die Plage der Populisten. | |
Nicht nur in Italien haben sie das Gesundheitssystem so zerbrechlich | |
gemacht, die geldgierigen Kaufleute. Die Sache wird nicht spurlos | |
vorübergehen, noch ist das Virus kaum in den armen Ländern, wird man dort | |
die Opfer noch zählen? Vielleicht haben sie auch Glück und dort wütet die | |
Seuche nicht ganz so wild, noch weiß das niemand. | |
## Tag 2 | |
Zwangsentschleunigt, wunderbar, ich genieße es! Draußen scheint die Sonne! | |
Seltsamerweise sehe ich mehr von ihr hier im Hausarrest als während meiner | |
Arbeit. | |
Endlich Zeit für so viel Liegengelassenes. So ist unsere | |
„arbeitsverdichtete“ Welt. | |
Heute kann ich sogar Mittagspause in meinem Lazy Day nehmen, das schaffe | |
ich auf Arbeit nur einmal in vier Wochen! (Wird automatisch von meiner | |
Regelarbeitszeit abgezogen, ob ich dazu kam oder nicht.) | |
Zuerst gründlicher Fensterputz. Die Sicht auf draußen darf nicht getrübt | |
sein. Nein, kein Balkon, kein Garten, nur eine Mietwohnung ohne Extras. | |
Steuererklärung bearbeiten... | |
Für vier Stunden funktioniert mein Handy nicht. Als ich es wieder zum | |
Laufen bringe, jede Menge von Anrufsversuchen und SMS von Familie, | |
Freunden, die sich Sorgen machen. „Nein, alles ist gut“, antworte ich. | |
Ein gutes Gefühl. In anderen Zeiten würden doch einige zu meiner Beerdigung | |
kommen. Bei Corona höchstens fünfundzwanzig Personen, heißt es. | |
Dann denke ich über meine Kontaktpersonen nach. Keiner macht mir einen | |
Vorwurf, das ist schon einmal schön! Ich fühle mich trotzdem irgendwie | |
schuldig. Ich fühle mich ein kleines bisschen wie ein Verräter meiner | |
besten Freunde, als ich deren Daten dem Gesundheitsamt preisgebe. | |
Ich zerbreche mir den Kopf, wo ich mich denn am ehesten angesteckt habe, | |
und wundere mich über die kleine Zahl von privaten Kontakten, die ich | |
hatte. Bin ich schon solch ein Nerd geworden? | |
Noch sind sie nicht getestet worden. Am Ende wissen wir wahrscheinlich auch | |
nicht, wer wen angesteckt hat. Habe ich mich etwa im Supermarkt angesteckt? | |
Erst neuerdings beginnen die Supermärkte ihr Personal zu schützen. Vorher | |
waren alle schon hamsterkaufen. Die Kassiererinnen und Kassierer | |
ungeschützt. | |
Es gibt sicher eine genaue Berechnung durch die Gewinnoptimierer, wie viele | |
Personen eine tüchtige Arbeitskraft pro Schicht bedient. Karte einlesen, | |
Geld anfassen, Tröpfchen in der Ausatemluft der Kunden. Bei der Unmenge von | |
Kontakten muss das Risiko einer Ansteckung an der Kasse annähernd 100 | |
Prozent sein! | |
Hat das Hamsterkaufen die Epidemie etwa befeuert? | |
## Tag 3 | |
Bisher ist alles gut. Keine gefährlichen Krankheitserscheinungen. | |
Vielleicht sollte ich aber doch einmal über ein Testament nachdenken. | |
Freunde kaufen für mich ein. Echte Freundschaft ist eine Gnade, eine der | |
wichtigsten Dinge des Lebens. Einsamkeit ist eine schwere Krankheit, die | |
das Leben um ungefähr sieben Jahre verkürzt, sagt der Psychiater Manfred | |
Spitzer. | |
So langsam beginnt mir doch die Decke auf den Kopf zu fallen. Soll ich | |
ausbüchsen? | |
Um nicht noch unnötig zuzunehmen, Fitnessübungen. Herr Pilates hat die | |
eigens im Gefängnis erfunden. Bin ja auch in einer Art Gefängnis. Selbst | |
gewählter und angeordneter Hausarrest. | |
Schaue mir die Statistik der Johns-Hopkins-Universität im PC an. Zunächst | |
war ich auf der Seite der besorgten Nicht-Infizierten. Jetzt gehöre ich zu | |
den gemeldeten „cases“, erfreulicherweise nicht zu den „deaths“ in der | |
Spalte nebenan. Ein bisschen so ähnlich hat sich vielleicht ein verwundeter | |
Soldat im Krieg gefühlt, der von der Front zurückgeführt wurde. | |
Ein Anruf vom Gesundheitsamt, noch einmal Klärung der Kontakte. E-Mails | |
bearbeiten, Nachfragen von der Arbeit, ich werde doch mehr auf Trab | |
gehalten, als ich anfangs dachte. Homeoffice eben, wie die meisten von uns, | |
ob infiziert oder nicht. | |
## Tag 4 | |
Die Redakteurin bittet mich, aus der Anonymität herauszutreten. Das geht | |
aus folgendem Grund nicht. Ich möchte in dieser (für alle zugeschalteten | |
Juristen, die dies lesen, natürlich fiktiven) Geschichte strikt bei der | |
Wahrheit bleiben, bei der ganzen Wahrheit: Heute habe ich möglicherweise | |
das Gesetz übertreten. Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich bin raus in | |
die Natur mit meinem Fahrrad! Ich habe niemanden gefährdet, hatte Maske und | |
Handschuhe an. Das Vermummungsverbot gilt aktuell vermutlich nicht mehr. | |
Zunächst habe ich geblinzelt, als ich ins Freie trat, wie ein seit Tagen | |
verschütteter Minenarbeiter. Endlich war zwei Meter über mir keine Decke | |
mehr, ich war meines Lebens froh wie ein kleiner Hund! | |
Ich habe mir das Treiben der Menschen von weitem angesehen, so schön! | |
Vorwiegend empfehlungsentsprechend, Social Distancing! Da war eine | |
Fußgängerampel, die nur geht, wenn man einen Knopf drückt. Wer hätte in | |
normalen Zeiten gedacht, dass dieser Knopf für die Übertragung von Viren | |
sorgen könnte. | |
Nun, dann suche ich mir ein Pseudonym. Wie wäre es mit Kranzik? Krank durch | |
Kranz (=Corona)virus? Wie Banksy, der wahrscheinlich bei einer Bank | |
arbeitet (?), ganz unverfänglich. Lässt auch nicht auf mein Geschlecht | |
schließen. Warum denken eigentlich alle, dass Banksy ein Mann ist? | |
Ich musste mit mir kämpfen, wieder nach Hause zurückzukehren, aber | |
glücklicherweise wurde es nach und nach kühl und dunkel. | |
## Tag 5 | |
Die vormals venezianische Stadt Ragusa (heute Dubrovnik) ließ Besatzungen | |
möglicherweise pestverseuchter Schiffe dreißig Tage = „la trentana“ | |
(trenta, Deutsch: dreißig) absondern. In Venedig ließ man die Schiffe vor | |
einer Insel ankern, „isolieren“,(Isola italienisch = Insel). Wenn die | |
Seeleute dann noch am Leben oder wenigstens leidlich gesund waren, hatten | |
sie wohl keine Pest. | |
Man traf diese pragmatischen Maßnahmen, ohne auch nur im Ansatz zu | |
verstehen, was denn die Pest bewirkte. | |
Später auf vierzig Tage erhöht ergibt das, was man dann in Marseille als | |
„Quarantaine“ (vierzig Tage) bezeichnet hat. Meist ist die Inkubationszeit | |
bei Coronavirus kürzer, sodass wir heute zu einer „Quatorzaine“ (vierzehn | |
Tage) individueller Isolation einer infizierten Person gekommen sind. Wenn | |
man auf Chinas Zahlen sieht, wird es aber wohl auf mehr als vierzig Tage | |
kollektiven Untertauchens hinauslaufen. | |
Nicht abzusehen sind die wirtschaftlichen Folgen. Dabei meine ich weniger | |
die multinationalen Großbetriebe oder gar Banken (warum eigentlich schon | |
wieder die Banken?), die sicher reichlich mit Hilfen bedacht werden, | |
sondern den kreativen Reichtum unseres Landes, kleine und mittelständische | |
Unternehmen, die noch wirklich selbst einen Bankrott ausbaden müssen, | |
Kurzarbeiter, Künstler, Arbeitende ohne Festvertrag... | |
Bei sozialem Distancing helfen virtuelle Kontakte. Hoffen wir, dass die | |
zahlreichen, unzureichend getesteten Silicon Valley People nicht plötzlich | |
ausfallen! | |
Das Jugendamt hat voraussichtlich andere Probleme. Einerseits Homeoffice, | |
andererseits das Risiko, dass „hinter verschlossenen Türen“, wie Sartre | |
einst schrieb, die Hölle erst richtig Fahrt aufnehmen kann. Hoffentlich | |
folgen die Verantwortlichen dem salomonischen Urteil, wer im Sinn der | |
Kinder auch mal zurücksteckt, statt die Schlacht bedingungslos | |
auszufechten, ist wahrscheinlich besser für die Erziehung der Kinder | |
geeignet. | |
Die Römer schrieben einst „homo hominis lupus“, der Mensch sei des Menschen | |
Wolf. Heute heißt es „homo hominis coronavirus“, jeder kann sich bei jedem | |
infizieren und du siehst es ihm nicht an. Übrigens, ähnlich den frühen | |
Zeiten des Aids-Tests, als es für die Krankheit auch keine Behandlung gab: | |
Wer ihn macht, tut das nicht für sich, sondern vor allem, um andere zu | |
schützen. | |
## Tag 6 | |
Es heißt, eine Nahtoderfahrung ließe einen das Leben intensiver leben und | |
man konzentriere sich auf die essenziellen Dinge des Lebens. Ich muss | |
zugeben, dafür bin ich momentan nicht weise genug. Ich sauge und putze die | |
Wohnung, nicht gerade essenziell. Ich fühle mich wohl nicht krank genug. | |
Andererseits träumte ich seit der Kindheit, das Präludium in C von Bach | |
einmal fehlerfrei auf dem Klavier zu spielen. Damals waren meine Hände zu | |
klein, um die weiten Akkorde zu greifen. Wer daran zweifelt: Es gibt ein | |
Leben nach dem Tod. Bachs Geist ist durch Millionen Hände in fünf | |
Jahrhunderten hindurchgegangen und heutzutage schickt Spotify Bachs Musik | |
durch den Äther. Also ist es auch nicht wirklich sinnvoll, gerade jetzt | |
dieses Präludium zu üben. | |
Social Distancing hat ein Gutes: Viele Betriebe und Institutionen haben | |
sich erst jetzt zwangsläufig getraut, es ernsthaft auszuprobieren. | |
Homeoffice entlastet unsere Straßen und Schienen und damit unsere Umwelt. | |
Die Umwelt profitiert von der Seuche. Das spricht für eine besondere | |
Verschwörungstheorie: Greta hat Trump überzeugt, ein in amerikanischen | |
Geheimlabors genmanipuliertes Virus heimlich nachts mittels Drohne auf dem | |
Markt in Wuhan zu versprühen. | |
Herrn Trump würde ich die kriminelle Energie nicht absprechen, aber Greta. | |
Präsident Bolsonaro in | |
Brasilien stellt die kriminelle Energie und den Grundgedanken einiger | |
Populisten erschreckend eindrucksvoll unter Beweis. Sein | |
sozialdarwinistisches Kalkül: Lass Schnitter Corona die Alten im Land | |
dezimieren, das kostet weniger Renten, die Wirtschaft wird nicht | |
heruntergefahren, die Reichen im Land sind ehedem hinter Stacheldraht und | |
elektrischen Zäunen in ihren Häusern vor der Bevölkerung und damit vor | |
Corona abgeschirmt, häusliche Isolierung mit Swimmingpool schon lange | |
Gewohnheit. Und wie sollte man die Leute in den Favelas isolieren? | |
## Tag 7 | |
Der Tag des Herrn, das Bergfest (Halbzeit der vierzehn Tage Isolation), | |
sagt mein Freund, dem ich durch unseren Kontakt ebenfalls die häusliche | |
Isolation eingebrockt habe. | |
Aus einem Brief des Gesundheitsamts, der jetzt in meinem Briefkasten lag, | |
geht hervor, dass ich tatsächlich nicht hätte aus dem Haus gehen dürfen. | |
Das Amt hätte sich die Mühe sparen können, mir einen zweiten Brief zu | |
schicken, sondern diese Anordnung gleich dem ersten Brief beilegen können, | |
aber wahrscheinlich wird befürchtet, dass das die Leute zu sehr schockieren | |
würde. Andererseits war ich so vier Tage ohne klare Anweisung. Ich hatte | |
auch keine entsprechende Empfehlung für Infizierte auf der Homepage des | |
Robert-Koch-Instituts gefunden. | |
Erstaunlich, wie schlecht die USA auf die Epidemie vorbereitet sind. Hat | |
die CIA nicht zahllose bioterroristische Szenarien durchgespielt? Sind die | |
Centers for Disease Control nicht bestens ausgestattet? Man muss zugeben, | |
die von der Johns-Hopkins-Universität so zeitnah aufbereiteten Daten | |
erhalten diese von Einrichtungen wie den CDC. Die Amerikaner, historische | |
Bioterroristen, deren englische Vorfahren die Indianer dezimiert haben, | |
indem sie Decken an diese verkauft haben, die sie vorher mit | |
Pockenflüssigkeit eingerieben hatten! Bio-Genozid der übelsten Sorte. Die | |
Amerikaner müssten es doch besser wissen! Nun haben sie zahlenmäßig, was | |
Infektionen angeht, China, zumindest in der offiziellen Statistik, | |
überholt. Gratulation, Herr Trump: America first! | |
Übrigens, auch wenn es so scheinen mag, ich bin kein Antiamerikaner, ich | |
hab nur was gegen Dummheit. Dummheit ist nicht harmlos. Sie hat uns in die | |
Weltkriege getrieben. | |
Gerade habe ich mit einer alten italienischen Freundin telefoniert. Sie ist | |
Ärztin. In ihrer Nachtschicht hat sie vor zwei Tagen einen vierzigjährigen | |
Mann ohne erkennbare Vorerkrankungen auf die Intensivstation aufgenommen. | |
Heute ist er tot. So harmlos ist das Virus nicht, auch wenn das viele Leute | |
gerne glauben möchten. | |
31 Mar 2020 | |
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